Sturmflut
Beschnittenes Menschenrecht
Seit Tagen geht mir die Sache mit der Beschneidung durch den Kopf. Allenthalben ist etwas darüber zu lesen - von Gegnern wie Befürwortern dieser Praktik gleichermaßen, von denen, die die Religionsfreiheit in diesem Land gefährdet sehen und hinter der Kritik (wie üblich) Anti-Islamismus Schrägstrich Antisemitismus wittern ebenso wie von kopflosen Xenophobikern. Wirklich Kluges habe ich dazu noch nicht gelesen. Bis ich mal wieder in der Flohbude vorbeischaute.

Herr Flohbude stellt eine in meinen Augen wichtige Frage zu diesem Thema:

Wird mit der Entfernung der Vorhaut eine Modifikation hin zu einem gewünschten Sozialverhalten erreicht? Erzeugt der Schnitt einen charakterlich qualifizierten Menschen?

Unter dem Gesichtspunkt der Vernunft und menschlicher Erziehungsziele kann man diese Frage ganz deutlich verneinen, was Herr Flohbude auch konsequent tut. Ich bin da mit ihm einer Meinung. Voraussetzung für diesen Konsens ist natürlich, dass man unter den Begriffen "erwünschtes Sozialverhalten" und "charakterlich qualifiziert" dasselbe versteht.

Ganz ähnlich wie die unsägliche Menschenrechtsverletzung, die die Beschneidung von Mädchen darstellt, ist auch die Beschneidung der Jungen ein massiver Eingriff in die Intimsphäre und körperliche Integrität eines Kindes. Nicht zuletzt (was meines Erachtens nicht hoch genug bewertet werden kann) ist das eine einschneidende Verletzung des Vertrauensverhältnisses zwischen Eltern und Kind. Necla Kelek schildert in ihrem Buch "Die verlorenen Söhne" eindringlich, wie die Beschneidung ihrer Neffen vonstatten ging und wie verwirrend und schmerzlich diese Prozedur für die beiden Jungen gewesen ist. Ob dieses Beispiel representativ für sämtliche Beschneidungen im Islam ist, ist ein Streitpunkt, der immer wieder von neuem aufgegriffen wird und den ich zunächst einmal dahingestellt sein lassen will.

Die Frage nach dem wahren Zweck dieses Rituals beschäftigt mich viel mehr. Mir fällt (nicht zum ersten Mal) auf, dass Maßnahmen und Verhältnisse, die uns bei emotionsloser Betrachtung absurd erscheinen und die nicht durch Vernunft begründet werden können, religiösen Ursprungs sind. Das impliziert, dass hinter dem jeweiligen Ritual oder Umstand eine Art hehres Ziel steht. Es verleiht dem Ganzen eine erhabene Aura, etwas Geheimnisvolles, in das Laien (zu denen die Kritiker selbstverständlich immer deklariert werden) keinen Einblick haben und auch nicht haben können. Die religiöse Begründung ist gleichzusetzen mit einem autoritären "Das ist so. Darüber diskutiere ich nicht!".

Herr Flohbude fragt:
Welchen Grund außer der Tradition der Religion existiert also, der diesen Akt rechtfertigen kann? Das "Wir machen das schon immer so!" ist ein historisches, das "Gott hat es uns anbefohlen!" ein Autoritätsargument. Beide sind für Philosophen unbefriedigend, weil sie sich nicht selbst tragen, sondern immer Rückgriffe auf zumindest fragwürdige Elemente brauchen.

Rückgriffe auf fragwürdige Elemente - das trifft den Nagel auf den Kopf. Die Fragwürdigkeit wird religiös bemäntelt oder gar im Unbewussten gehalten, damit man sich ihr nicht zu stellen braucht.

Der Grund für die Beschneidung der Mädchen liegt für unseren Blick relativ offen zutage: Der Eingriff verhindert ein lustvolles, eigenständiges Sexualleben der Frauen und damit auch rigoros die Möglichkeit, dass ein Mann möglicherweise ein anderes als sein eigenes Kind großzieht. Es geht um die Verfügungsgewalt über die Reproduktionsressource Frau, ganz ähnlich wie auch beim Verschleierungszwang, beim Einsperren der Frau ins Haus, beim "Kein Sex vor der Ehe"-Gelaber in manchen christlichen Kreisen. Zwar wird hier fußnotenmäßig immer wieder auch angefügt, das Gebot, sich nicht aufreizend anzuziehen und keusch und enthaltsam zu bleiben gelte auch für Männer, aber wir wissen, die Praxis sieht da anders aus.

Der Zweck der Beschneidung von Jungen ist ein wenig subtiler, aber nicht weniger weltlich. Das dicke Fest, das die kleinen Jungen wie Prinzen feiert (ich spreche hier jetzt gerade nicht von der jüdischen Beschneidungstradition), hebt sie deutlich von den Mädchen ab, für die es nichts Vergleichbares gibt (und die man statt dessen teilweise schon im Kindesalter unter das Kopftuch zwingt). Das Ritual dient also einer vollkommen unnatürlichen und schädlichen Geschlechtersegregation und entfremdet die Geschlechter einander extrem früh. Aber es wertet die Jungen nicht allein auf. Es trennt sie auch radikal aus ihrer Kindheit heraus. Sie werden "zum Mann gemacht", ihre Geschlechtlichkeit wird betont, und zugleich dürfen die Frauen bei der Angelegenheit nicht anwesend sein, nicht eingreifen und nur am Rand stehen.

Ich unterstelle, dass dies nicht zufällig in einem Alter geschieht, in dem die Kinder ihre Rolle und Position bereits wahrnehmen können und in dem sie das Bewusstsein über ihr eigenes Geschlecht besitzen. Heulen und Angsthaben ist bei dieser Sache übrigens auch nicht sehr en vogue. Mit der Verleugnung oder Abstrafung von Angst, Schmerz, Scham und Traurigkeit beginnt die Trennung männlicher Kinder von ihren Gefühlen und ihre Reduktion auf für Jungen und Männer erwünschte Verhaltensweisen und Emotionen. Hier wird zum ersten Mal vor allen anderen Stärke bewiesen und über den Schmerz hinweggegangen, Trösten wird unterbunden, allenfalls wird abgelenkt. Vor dem breiten Publikum, das bei der Inszenierung solcher Feste zugegen ist, ist die offene Entblößung und Verletzung zugleich eine Demütigung ersten Ranges. Das Kind erhält eine paradoxe Botschaft: "Dir wird weh getan werden, aber du musst dich darüber freuen!"

Dass dies zum Wohl eines Kindes geschehen soll, weigere ich mich zu glauben. Es ist nicht allein die Verfügung über ein Stück Haut, es ist ein bewusstes Überschreiten der Schamgrenze der Jungen, ein Brechen ihrer natürlichen Verhaltensweisen, eine Bloßstellung, die sie dazu zwingen soll, in das von ihnen erwartete Rollenschema aus vermeintlicher Stärke und Macht hineinzuwachsen. So etwas gehört aus denselben Gründen verboten wie Prügel und andere seelische und physische Gewaltmaßnahmen in der Erziehung. Es ist absolut keine Einmischung des Staates in Erziehungsbelange und eine Einschränkung der Religionsfreiheit, wenn der Staat solche schädlichen und überflüssigen Rituale unterbindet. Im Gegenteil: Die Einmischung des Staates macht ganz deutlich, dass der Schutz und die Würde des Menschen Achtung verdienen. Erst recht, wenn es sich dabei um Kinder handelt.

Diese Idee von Würde und Achtung des Einzelnen darf in diesem Land nicht einfach über Bord geworfen werden, schon gar nicht durch religiös kaschierte Bestrebungen, das Individuum mit Gewalt in überkommene Strukturen zu pressen, die seinen seelischen und körperlichen Bedürfnissen nicht nur nicht Rechnung tragen, sondern sie bewusst mit Füßen treten.

Ich möchte das Schlusswort in dieser Sache Herrn Flohbude überlassen:

Kein Mensch gehört jemandem. Keinem Menschen steht es zu, über andere zu entscheiden, sie zu instrumentalisieren, sie zum Mittel eines eigenen oder fremden Zweckes zu machen, in ihre Integrität einzugreifen, sei es körperlich oder geistig. (...) Das Kind gehört nicht den Eltern, die Frau nicht dem Mann, der Schüler nicht dem Lehrer, der Bürger nicht dem Staat, der Arme nicht dem Reichen, der Dumme nicht dem Klugen, der Machtlose nicht dem König. Ganz im Gegenteil: Der Starke, Wissende, Mächtige ist verantwortlich für den Schwachen, Dummen, Machtlosen! In deren Sinne muss er nämlich handeln, auf dass dieser selbst stark, klug und mündig wird, ist er doch in dieser Beziehung der weitsichtigere, eben weil er schon viel gesehen und erreicht hat; er besitzt die Mittel, die dem anderen unter Umständen fehlen. Jede Entscheidungen die einen Anderen betrifft muss, und sei es nur im Geiste, mit einem plausiblen Begründungssatz einhergehen. Das weil, welches diese Nebensätze anführt, ist unser einziger Schutz gegen die Willkür, die höchstens einem Tier verziehen werden kann, einem Menschen im 21. Jahrhundert jedoch nicht angemessen ist.

Flohbudes ganzer Beitrag ist hier zu lesen.