Sturmflut
Wie ist das denn eigentlich...?
Über die Gründe meines Kontaktabbruches zu den Eltern habe ich hier schon sehr viel geschrieben. Das endete oft in den Kommentarsträngen in Diskussionen um das Verzeihen und um die Rolle, die Eltern im Leben jedes einzelnen spielen. Beides sind wichtige Themen, die immer wieder an die Oberfläche meines Lebens treiben wie eine Wasserleiche. Mein Blogeintrag "Pflaster drüber, und gut?" gehört mit heute 1085 Aufrufen zu den meistgelesenen meines Blogs.

Mich erstaunt immer, wie oft Menschen auf der Suche nach dem Stichwort "Verlassene Eltern" hierher gelangen. Ich schaue dann wieder einmal selbst nach Treffern dazu, und mir fällt nach dem Sichten der vielen Beiträge zum Thema auf, dass es unglaublich oft nur die Eltern sind, die darüber reden. Manche sehr viel, wie Angelika Kindt (die mit ihrer Geschichte in den Medien extrem präsent ist und außerdem ein Buch über den Kontaktabbruch ihrer Tochter Maya schrieb), andere nur sporadisch. Manche finden sich in eigens dafür eingerichteten Foren zusammen, andere schreiben in Gästebüchern und Kommentarspalten. Selbsthilfeforen oder -gruppen für "verlassende Kinder" gibt es nicht, nur manchmal lösen Medienbeiträge Lawinen von Kommentaren verlassender Kinder aus, wenn der Schutz der Anonymität im Netz und dieser "Ach, das habe ich auch erlebt!"-Effekt die Angst vor Verletzung und Bloßstellung überwiegen.

"Selbsthilfegruppe Verlassende Kinder" klingt ja auch ein bisschen komisch. Wer verlässt, der hat doch schließlich die Macht. Er ist doch derjenige, der aktiv ist, verletzt, vor den Kopf stößt, messerscharf schweigt und damit über die Kommunikation bestimmt. Warum sollte so jemand auch Hilfe brauchen? Sich so eine Gruppe vorzustellen ist schwierig.

Im Interview mit einem evangelischen Fernsehsender habe ich Frau Kindt noch mal gesehen. Eine verkrampft wirkende, raumgreifende, ins Wort fallende, Bestätigung suchende Frau. Es ist nicht unbedingt so, dass sie das Thema meidet. Sie sagt, nach dem jahrelangen Leugnen des Kontaktabbruchs ihrer Tochter nach außen sei es jetzt wie eine schlecht verheilende Wunde, die immer dann wieder aufbricht, wenn sie darüber spricht. Das Thema sei immer da. Sie liebe ihre Tochter wie verrückt. Sie habe ein Bild von ihr zuhause stehen.

Sie selbst ist es, die die Wunde offenhält. Wenn man sie im Interview sieht, dann spürt man, wie sie sich immer wieder von neuem an dem (gar nicht so unausgesprochenen) Schuldvorwurf ihrer Tochter aufscheuert, statt sich ihm wirklich zu stellen. Die Moderatorin fragt Frau Kindt nach ihren Gefühlen. Aber die Frau bleibt seltsam unkonkret, distanziert und selbstbezogen, ohne von sich etwas preiszugeben. Nur, dass sie nicht schuld sein will, das merkt man ihr deutlich an. Und sie betont, wie schwer das alles sei - dieses, was sie als Schicksal bezeichnet.

Als ich das Interview ansehe, wird mir klar, dass über die Sichtweise der Kinder wenig gesprochen wird. Das merkt auch der zusammen mit Frau Kindt interviewte Psychologe an. Kinder schweigen. Gerechtfertigt hat man sich als Kind ja genug, bis man beschloss, es eben nicht mehr zu tun, zukünftig den Mund zu halten und zu handeln, anstatt zu reden. Aber ich merke auf einmal, dass ich den Wunsch habe, darüber zu schreiben. Nicht zum ichweißnichtwievielten Male über meine Gründe - das wäre in der Tat eine Rechtfertigung, die ich nicht brauche, weil in dieser Sache ausreichende Klarheit herrscht. Sondern darüber, wie es sich anfühlt, den Kontakt zu den Eltern abzubrechen.

Für mich als Tochter ist es eine ziemlich harsche Erkenntnis gewesen, dass ich vom Zeitpunkt des Kontaktabbruches an auf einen Teil meiner Familie verzichten muss, wenn ich keinen Selbstverrat begehen will. Dass ich mich dazu bewusst entschieden habe, bedeutet nicht, dass das keine Schmerzen bereitet. Neben einem wundervollen Gefühl von Freiheit und Entlastung ist da nämlich auch noch vieles andere. Mein Leben lang konnte ich mich auf die Sicherheit, die die eigene Familie vermittelt hatte, verlassen. Es war eine hässliche Sicherheit, aber es war Sicherheit. Wenn ich vorgab, mich wohlzufühlen, glücklich und erfolgreich zu sein, mich immer anzustrengen, wenn ich nach Konformität strebte und mühsam die wenigen Berührungspunkte pflegte, die ich tatsächlich mit meinen Eltern hatte, dann konnte ich mir sicher sein, dass sie mir ihre Aufmerksamkeit und das, was sie und ich gleichermaßen für Liebe hielten, nicht vollständig entziehen würden. Das alte, vertraute Spiel ("Meine Seele gegen Deine Liebe") war immerhin das - vertraut.

Wie extrem nackt und kalt es sich anfühlt, diese Vertrautheit zu verlassen, das kann niemand nachfühlen, der die Gnade erlebt hat, sich in einem ganz normalen, gesunden Prozess von den Eltern lösen zu dürfen. Wie weich die Knie tatsächlich sind, wie groß das Gefühl der Leere, und wie lange es wirklich dauert, mit dem Schreckgespenst der elterlichen Ablehnung umgehen zu können, wenn man sie denn einmal wirklich, tatsächlich herausfordert, das lässt sich nicht ermessen, ehe man diese Erfahrung nicht selbst macht. Verloren fühlt sich das an, hoffnungslos verloren, und man hat es selbst so gewollt.

Kontaktabbruch bedeutet auch für die Kinder, schief angesehen zu werden. Nicht allein die Eltern leiden darunter, den Nachbarn etwas vorflunkern zu müssen, wenn sie gefragt werden, warum denn diese Weihnachten die Tochter oder der Sohn nicht da ist. Das peinlich betretene Schweigen, das sich einstellt, wenn man Bekannten oder entfernteren Schwiegerverwandten erzählt, dass man keinen Kontakt zu den eigenen Eltern hat, ist eine Klasse für sich. Man spürt ihre brennende Neugier auf eine Erklärung und gleichzeitig, wie wie ihr antrainierter Anstand es ihnen verbietet, zu fragen. Man selbst wünscht sich nichts mehr, als dass dieser Moment vorbeiziehen möge, damit man weder komische Floskeln bemühen ("Wir haben so unsere Schwierigkeiten!") noch ehrlich sein muss ("Mein Vater hat mich missbraucht. Meine Mutter hat es nicht interessiert." Liste beliebig ergänzen). Glück hat man, wenn niemand unbedarft zum Besten gibt, wie charmant, nett, aufgeschlossen, interessant und liebenswert er die Eltern findet. Das erspart einem, betreten auf der Unterlippe herumzukauen und ein "Wenn Du wüsstest...!" herunterzuschlucken.

Mit dem Kontaktabbruch tauchten Probleme auf, mit denen ich vorher nicht gerechnet hatte. Wie gehe ich mit Freunden der Eltern um, die ich selbst gern mag? Nehme ich ihnen die Freundschaft zu den Eltern übel? Erwarte ich von jedem, der mir ab jetzt begegnet, eine Positionierung? Instrumentalisiere ich die anderen, versuche ich, sie für mich einzunehmen? Missbrauche ich sie als Boten für Giftpfeile? Oder kündige ich dann doch lieber gleich das Verhältnis zu allen, die den Eltern nahestehen, nur so aus Vorsicht, aus Selbstschutz? Wem haben die Eltern was erzählt? Wem erzähle ich was? Wer erzählt was weiter? Watzlawick hatte Recht.

Eigentlich habe ich manches Mal ganz gern gewollt. Erzählen, reden, berichten von der vergifteten Atmosphäre im Elternhaus. Aber dann war doch oft die Angst zu groß, wieder nicht gehört, nicht gesehen und nicht ernstgenommen zu werden. Ich musste mich erst jahrelang immer wieder neu wundern über die professionelle, nichtsdestotrotz aber wirkungsvolle Akzeptanz des Therapeuten, der mir Woche für Woche im Sessel gegenüber saß und mich nicht abwertete. Vor allem aber über den mir gebotenen Raum für meine über all die Jahre mangels Benutzung brüchig gewordene Stimme. Wenn Du glaubst, Du kannst nicht sprechen und wirst nicht gehört, versuchst Du es halt irgendwann auch nicht mehr. Abruptes Schweigen ist für die, die sich nicht anders zu helfen wissen.

Wer glaubt, dieses Verhalten hätte irgend etwas mit (womöglich sogar lustvollem) Strafen zu tun, der irrt. Wer es gern komfortabel hat, bleibt in den alten Verhältnissen. Mir hat das alles keinen Spaß gemacht. Sehen, was man tatsächlich machen kann, anstatt das gewohnte Familiensystem als gegeben und unentrinnbar zu aufzufassen, ist ein Wagnis. Und es einzugehen ist sinnlos, wenn man nicht am Fundament anfängt.

Fundamental auch die Fragen, die sorgfältig gesäten und gedüngten Giftplanzen gleich immer wieder aufkeimen. Bin ich eine schlechte Tochter? Hatte ich das Recht zu diesem Abbruch? Sollte ich nicht meinen Eltern dankbar sein? Ist Blut nicht dicker als Wasser? Immer wieder Sollte ich nicht...?, Müsste ich nicht...?, Habe ich denn nicht die Pflicht...?, und die grausamste aller Fragen, Sind sie denn wirklich so schlimm? War das alles wirklich so schrecklich? Unter diesen Fragen, nagenden Zweifeln, unter diesem Gift in meiner Blutbahn habe ich gelitten und leide ich manches Mal noch heute. Einen Schritt zurücktreten und erkennen zu können, dass diese Fragen die Antwort bereits in sich tragen, ist vielleicht die größte Errungenschaft dieses Kontaktabbruches - und die am härtesten erkämpfte.

Wie ist das denn eigentlich, wenn man als erwachsenes Kind den Kontakt zu seinen Eltern bewusst abbricht? Es ist schmerzhaft und traurig. Man bricht mit den wichtigsten Menschen der eigenen Lebensgeschichte. Würde man nicht irgendwo ganz tief innen die Notwendigkeit dazu erahnen, dann würde man es bleiben lassen.