Sturmflut
Fluchtimpuls
Gerade musste ich einkaufen. Wäre es nicht unvermeidlich gewesen (Zahncreme, Frauenkram), dann hätte ich es bleiben lassen. Ich meide die Innenstadt dieser Tage, umgehe und umfahre Bretterbuden, Fress- und Saufstände und Ladenzeilen weiträumig. Mir will so gar nicht festlich zumute werden. Ich bin im Gegenteil drauf und dran, mich auf meinen misanthropischen Zug rückzubesinnen. Ich zünde ab und zu eine Kerze an gegen die frühe Dunkelheit und die Tristesse, und das ist dann auch schon alles.

Das beinahe kindliche Entgegenfiebern auf Weihnachten entfällt ohnehin seit Jahrzehnten, Geschenke sind auf ein Minimum reduziert, ich feiere nicht im jährlichen Turnus die Ankunft eines Religionsstifters, und Bäume mit Lichtern sind zwar hübsch, nadeln aber und kosten entschieden zu viel, dafür, dass sie zwei Wochen in der Wohnung herumstehen. Beisammensein mit anderen geht zum Glück auch ohne Weihnachten. Irgendwie bin ich in diesem Jahr unsentimental.

Der Einkaufstrip ging mir rechtschaffen auf die Nerven, und der führte mich nicht einmal bis in den Stadtkern, sondern nur bis kurz davor. Bereits am vergangenen Samstag war ich aus nicht-konsumbedingten Anlass im Zentrum der Nachbarstadt und habe gestaunt über die Menschenströme, die sich durch das künstliche Wohlfühl-Winter-Wunderland wälzen. Man selbst wird wunderlich, wenn man das eine ganze Weile nicht tut. Ich verspüre überhaupt nicht den Wunsch, Geld auszugeben, mir noch mehr Mist ins Haus zu holen, nicht einmal ansatzweise, nicht auch nur, um "mal zu gucken". Das Potpourri aus Gerüchen nach fettigem Fleisch vom Spieß, gepanschtem Glühwein und aufgeweichten Waffeln überreizt mich, und der Gedanke, mich zwischen im Schneckentempo vor sich hinschleichenden Tütenträgern zu bewegen, macht mich schon beinahe aggressiv. Nach dem Verlassen der Drogerie hängte ich meine Tasche an la biciclettas Lenker und dachte nur: "Nix wie weg hier!"

Aber am liebsten würde ich noch weiter weg flüchten. Gerade habe ich riesengroße Sehnsucht nach der Insel. Ich würde gern mit dem Gatten stundenlange Spaziergänge in den windzerzausten Dünen machen. An einem Ort sein, der einen nicht beständig aus der Happy-Konserve anbellt und der statt dessen so eine wohltuende Mischung bietet aus Abgeschnitten- und Gut-aufgehoben-Sein. Ich denke an das stetige Licht des Leuchtturms, und daran, dass das genug ist, um über die Dunkelheit hinwegzutrösten. Das und die hellen Fenster in den Dörfern. Da ist kein Lichterketten-Disneyland nötig und keine Straßenbeschallung. Die Insel ist mein gedanklicher Zufluchtsort.

Zur Bereisung derselben steht gerade kein Geld zur Verfügung. Sonst würde ich es sofort und ohne Zögern tun. Ich freue mich aber sehr auf die Zeit mit dem Gatten, der nur noch diese Woche hinter sich bringen muss und dann endlich lange frei hat. Dann werden wir die Nasen in die frische Luft halten und das Zusammensein genießen. Ganz planlos, nur nach Lust und Laune. Ob es wohl in diesem Winter so starken Frost geben wird, dass wir auf dem Kanal schlittschuhlaufen können?

Letztlich habe ich es natürlich selbst in der Hand, wie sehr ich mich diesem komischen, künstlichen Getue aussetze. Ich muss ja nicht. Ich merke, es wird mir in jedem Jahr ein bisschen fremder. Die Distanz wächst. Auch der Ekel vor dieser gierigen Konsumparty. Sich über selbige aufzuregen ist ja schon sowas wie ein saisonaler Dauerbrenner. Aber in diesem Jahr kommt mir das alles nicht nur furchtbar lästig, hektisch und unnötig vor, sondern regelrecht widernatürlich. Ich werte meine ungeheure Sehnsucht nach diesem utopischen-romantischen Sandhaufen in der Nordsee, dessen einzige eigene Geräusche das Schlagen der Wellen gegen die Kaimauern und der Wind in den Kiefern sind, als Symptom. Das ist, als möchte man sich ganz klein machen und in den dunklen Kleiderschrank setzen, wenn die Eltern streiten, weil man mit dem Gift in der Atmosphäre nicht zurechtkommt.

Es ist dies keine Sehnsucht nach der Weihnacht meiner Kindheit, kein nostalgischer Rückblick, kein "Früher war alles besser!". Es ist die nagende Sehnsucht nach einer Idee für die Zukunft, die diese nie wirklich sättigende Zuckerwatte-Welt ablöst und sich an dem orientiert, was uns ausmacht. Ich weiß nicht, ob es sowas geben kann. Aber den eigenen Ekel ernst zu nehmen ist ein Anfang.