Sturmflut
Was ist mir schlecht!
Ich wollte es eigentlich vermeiden, irgendwas zum Flug 4U9525 zu schreiben. Über Trauer und Schmerz gäbe es vielleicht einiges zu sagen, aber ich empfinde es als Heuchelei. Denn so tragisch, wie der Absturz des Flugzeuges ist, betrifft mich das nicht persönlich. Vorstellen kann ich es mir ohnehin nicht, und ich möchte nicht krampfhaft meine Phantasie bemühen, um mir auszumalen, wie es wohl gewesen wäre, hätten meine besten Freunde in dieser Maschine gesessen. Wozu soll das gut sein? Allenfalls leise und ungeplant kann einem der Schrecken über das Geschehene ab und an in die Knochen kriechen. Ich bleibe Zuschauerin.

Was mich dennoch dazu bringt, 4U9525 hier zum Thema zu machen, ist das Verhalten der Medien und der Öffentlichkeit. Es war mir klar, dass ich mich aufregen würde, und das bereits ab dem Moment, als ich von dem Absturz erfuhr. Ich dachte nur, ich könnte den Ärger darüber ignorieren. Weit gefehlt.

"Noch wissen wir über die knappen Daten des Fluges hinaus nicht viel, und jede Spekulation über die Ursache des Absturzes verbietet sich." - dieser Satz aus dem Munde nicht meiner Bundeskanzlerin gehörte zu den ersten öffentlichen Reaktionen, die mir zu Ohren kamen. Sie bildete den Auftakt der Dinge, die gesagt wurden, obwohl sie nicht gesagt wurden. Denn das unausgesprochene Terrorismus zwischen diesen Zeilen war definitiv ein Schlag mit der Keule. Frau Bundeskanzlerin gab damit die Richtung für eventuelle Spekulationen deutlichst vor. Herr de Maizière schloss sich dieser Richtung auch noch einmal beflissen an. Ozeanien ist nicht im Krieg mit Eurasien. Wir spekulieren nicht.

Das alles war, bevor (mehr oder weniger) klar wurde, was im Cockpit vor sich ging. Das unaussprechliche Wort lautet jetzt nicht mehr Terrorismus, es lautet Depression. Mein Geduldsfaden, der ohnehin schon sehr dünn war und noch dünner wurde, als ich hörte, dass sich der Lynchmob aufmache, der Familie des Co-Piloten auf die Pelle zu rücken (zwecks was, Rache?), riss jetzt entgültig.

Klar, die Bild-Zeitung nimmt kein Blatt vor den Mund und haut Schlagzeilen raus, was das Zeug hält. Ich soll ja auch nicht Bild lesen. Ich tat's trotzdem. Die Online-Präsenz wartet mit einem Foto des Co-Piloten auf, das ihn mit grimmiger Miene zeigt. Ein Photoshop-Künstler hat vermutlich noch ein bisschen den Kontrast aufgerissen, damit das Bild krasser wirkt. Das ganze Foto wird dann immerhin noch im "Artikel" selbst gezeigt, und sieh an, Andreas L. läuft bei einem Marathon (was das verzerrte Gesicht erklärt - ist ja auch anstrengend). Aber als Einstiegsfoto, entsprechend beschnitten und ohne Kontext, spricht das Bild der Bild eine deutliche Sprache: "Schaut her, so sieht es aus, Euer Monster der Woche!"

Dass sich die Bild-Zeitung nicht um Objektivität bemüht, weiß man als klar denkender Mensch natürlich. Nicht einmal Unterstellungen aber kann man ihr unterstellen, denn sie behauptet nicht, sie gibt sich investigativ und fragt ganz einfach. Bämm, bämm, bämm - in schönster Bild-Manier:

Welche Krankheit verheimlichte der Amok-Pilot?

War er wegen Psycho-Problemen in Behandlung?

Nahm er Medikamente?


Depressive* sind die neuen Terroristen. Das weiß man doch schon lange. Das sind die, denen ihr eigenes Leben nichts wert ist. Die sich auf Kosten anderer durchmogeln. Die sich und andere gefährden, ein verschobenes Bild von der Wirklichkeit haben und sich einen Dreck um andere scheren. Das sind die Idioten, die vor Züge treten, ohne an die armen Lokführer zu denken. Das sind die Gefährder unseres Seelenfriedens. Die Psychos, die außer Kontrolle zu geraten drohen.

Wie mich das alles ankotzt, mit Verlaub. Denn Medien wie die Bild machen es den Menschen leicht, pauschal einen Schuldigen zu finden. Sie machen es einfach, jemanden zu verurteilen und ein Feindbild zu zeichnen. Sie lassen Mitgefühl vergessen und lehren hassen. Bei den Depressiven wird's nicht bleiben, morgen sind es wieder die Muslime, übermorgen die Sozialschmarotzer und am Tag drauf dann bist es vielleicht Du.

Und bitte nicht vergessen: Wer suizidal ist, ist automatisch auch depressiv. Wer depressiv ist, wird früher oder später auch Suizid begehen. Wer irrational handelt, muss psychisch krank sein. Wer psychische Probleme hat, kommt mit seinem Leben nicht mehr klar. Er wird sich auch niemals erholen, sondern ist eine tickende Zeitbombe. Wer Medikamente nimmt, wird unter ihrem Einfluss etwas tun, das anderen schadet. Wer krank ist und sie nicht nimmt, erst recht. Wer psychisch krank ist, hat nie und nimmer ernsthaftes Interesse am Leben und seinen vielfältigen Aspekten - nein, er ist immer gleich besessen von etwas. Wenn er ein stiller Typ ist, ist er der Freak von nebenan. Wenn er ein lauter Typ ist, ist er krankhaft narzisstisch und giert nach Aufmerksamkeit.

Wie auch immer es kommt, es gibt für alles eine Erklärung. Euch wird der Schuldige präsentiert werden, der Mörder der Kinder Eurer Nachbarn siebzehn Häuser weiter. Die kranke Sau!

Wenn die Bilder der trauernden Angehörigen abgegriffen sein werden (und das werden sie schon bald, denn Blumensträuße und brennende Kerzen und Schilder mit der Aufschrift "Warum?" haben eine kurze Halbwertszeit), dann gibt es für das gierige Publikum nichts schöneres, befriedigenderes, als in der vermeintlichen Abartigkeit des mutmaßlichen (!) Täters zu schwelgen. Die Heugabel lehnt schon an der Wand, die Fackel braucht nur noch angezündet zu werden.

Diese Hetzjagden widern mich dermaßen an. Sie treten allen, die in dieser schrecklichen Geschichte leiden und gelitten haben, mit Schwung ins Gesicht.

Das einzige kluge Wort zu all dem habe ich irgendwann in den vergangenen Tagen von einem Was-auch-immer-Experten in einem Fernsehinterview gehört, der sinngemäß sagte: "Es muss dieser Tragödie in jedem Fall auch eine menschliche Tragödie anderer Art vorangegangen sein." Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.

* Wahlweise eignen sich hier übrigens auch prima "die" Autisten.