Sturmflut
Langsam verrückt werden. Oder?
Wenn du auf der Bettkante sitzt und heulst, weil du nicht schlafen kannst und dich jedes einzelne Wort bis ins Mark trifft, ganz gleich, wie es gemeint ist, dann weißt du, was du eigentlich nicht wissen willst: Das ist Depression.

Sie hatte sich ziemlich gut versteckt in den letzten Monaten meiner Arbeitslosigkeit, und jetzt, da ich mich an allem neu messen muss, bricht sie auf wie ein altes Geschwür. Schon allein für die Tatsache, dass ich wegen jedem Kleinscheiß weine, hasse ich mich in diesen Momenten. Dafür, dass ich mich dafür hasse, ebenfalls. In den vergangenen Tagen und Wochen hätte ich am liebsten mein gesamtes Umfeld um Entschuldigung gebeten für meine Existenz, und zwar ohne diesen ironischen Unterton, den Teenager manchmal an sich haben, wenn sie sowas sagen. Entschuldige bitte, dass es mich gibt!

Ich habe mich zur Arbeit gequält. Ich habe eine Kollegin, die die übelsten Ressentiments in mir aufwallen lässt, weil sie ganz und gar nicht mein Typ Mensch ist. Im Kontakt mit Freunden spüre ich meine Depression nicht, meine Menschenscheu, meine Misanthropie und meinen versteckten Zorn, weil mir Freunde ähnlich sind. Ich verbringe meine freie Zeit mit ihnen, weil ich sie liebe. Hier ist jetzt jemand, an dem ich mich plötzlich messen, mit dem ich konkurrieren, dem ich Grenzen setzen und gegen den ich mich durchsetzen muss. Unbestritten eine große Aufgabe bei einer Person, die fast dauernd damit beschäftigt ist, nach Komplimenten zu fischen, eigene Fehler auf andere abzuwälzen oder zumindest vehement zu leugnen und die ein Mundwerk hat von hier bis nach Bangladesh.

Also bin ich ziemlich beschäftigt damit, herauszufinden, wer ich bin im Unterschied zu ihr. Den Fehler habe ich schon mal gemacht, da war ich noch nicht einmal erwachsen. In den Jahren danach ging ich jeder Konfrontation dann einfach aus dem Wege und maß mich gar nicht mehr. Sich messen ist so ungewohnt, kleine Mädchen lernen das nicht, die lernen nur eine fiese, versteckte Art des Herumzickens. In dem ich mich dann auch unversehens wiederfand. Ich zickte mit. Und starb dabei. Ich hätte mich messen sollen, aber nicht an ihr, sondern mit ihr.

Jetzt werde ich mich damit befassen, den aufrechten Gang neu zu lernen. Die Kollegin ist nicht das Problem. Sie ist weder das kreative Genie noch die Giftspinne, die ich in ihr zeitweise sah, sondern nur ein ziemlich verlorenes kleines Mädchen mit unbestrittenen Talenten auf der Suche nach Selbstbestätigung. Die interessante Frage ist, wie es kam, dass meine Sicht so verzerrt war, dass ich diesen Menschen als bedrohlich wahrgenommen habe.

Widrige Umstände halte ich mir zugute. In einem kleinen Fünf-Frau-Betrieb das Schiff ohne Kapitänin irgendwie auf Kurs zu halten, ist schlicht nicht einfach. Schon gar nicht dann, wenn die eine Hälfte der Belegschaft sich in Ausbildung oder Praktikum befindet und die andere erst frisch eingestellt, aber nie eingearbeitet wurde. Und ich war beides. Ohne Möglichkeit für Rückhalt und Rücksprache. Ich war überfordert, aber mein Zwang zum Perfektionismus schloss das von vornherein aus. Ich hätte mir Entlastung gewünscht und merke jetzt erst, wie gut es tut, sie zu bekommen.

Da kann man schon mal ins Heulen kommen. Da kann man schon mal fürchten, was der nächste Tag an Stolperfallen für einen bereithalten mag. Mal. Rapide abzunehmen vor lauter Stress ist wohl nicht so optimal. Keinen Schlaf mehr zu kriegen auch nicht. Nachts die Augen zu schließen und die Namen von Kunden durch den Raum schweben zu sehen ist ungesund. Grübeln ohne Unterlass. Bin ich gut genug? Habe ich an alles gedacht? Kann mir auch niemand einen Strick drehen? Habe ich alle Haken und Ösen ausgebügelt? Siedendheiße Adrenalinstöße. Oh meine Güte, habe ich...? Nein, Mist, der Korrekturabzug! Hoffentlich sind die Druckdaten rechtzeitig fertig! So lange, bis irgendwann nachts um drei die Energie nicht mehr reicht, ich weine vor Verzweiflung und Müdigkeit und sämtliche Kraft aus mir herausrinnt.

Dabei bin all das gar nicht ich. Ich will nicht langsam verrückt werden. Schon gar nicht auf diese Weise. So randvoll mit Misstrauen, ja beinahe schon Paranoia. Randvoll mit Angst. Aufgescheuert an alten Maßstäben, die nicht mal zu mir gehören.

Schluss!

Heute dann zum ersten Mal die Chance, Atem zu schöpfen und pünktlich nach hause zu gehen. Sollte ich öfters machen und die Verantwortung da lassen, wo sie hingehört. Ich kann nicht alles können. Für Fehler wird mich niemand töten. Es ist den Selbsthass nicht wert. Vieles mag mein Handeln und Denken in Frage stellen. Aber ich bin immer noch hier.