Sturmflut
Heimat II
Es sind viele Stimmen zusammengekommen zum Thema Heimat. Das hat auch meine eigenen Gedanken weiter angeregt. Aber erst einmal ein großes Danke an alle, die dazu etwas geschrieben haben, sei es jetzt im eigenen Blog oder hier in den Kommentaren.

Mir fällt auf, Heimat scheint viel mit Erinnerungen und Kindheit zu tun zu haben. Das ist ja irgendwie auch logisch, wenn man bedenkt, dass es um Wurzeln geht. Dort, wo man großgeworden ist, hat man zum ersten Mal gewurzelt, auch wenn man diese Wurzeln später gekappt hat.

Kindheitsheimat, das ist für mich der Milchwagen, der mit großem Klingeln einmal die Woche vor unserer Haustür hielt und wo meine Großmutter mir etwas Süßes kaufte. Kindheitsheimat hängt überhaupt sehr eng mit meiner Großmutter zusammen. In meiner Kindheitsheimat gab es eine Schaukel, selbstgebaut von meinem Vater, auf der man so hoch schaukeln konnte, dass man beinahe die Tannenspitzen mit den nackten Füßen berühren konnte. Kindheitsheimat ist das hohe Gras der Pferdewiese hinter unserem Haus, in dem wir uns vollständig verstecken konnten. Kindheitsheimat ist der schmale, geschotterte Pfad entlang der Bahngleise, über den unser Schulweg verlief und den wir ab und an entgegen elterlicher Instruktion verließen, um auf den Schienen zu laufen, bis uns das Horn der nahenden Diesellok mit einem schönen Schauer verjagte.

Aber in diesem Blick auf die Kindheitsheimat ist auch viel Verklärung, denn er spart bewusst aus, was weniger idyllisch war. Die dörfliche Enge, den spürbaren Neid der Menschen auf andere, die nachbarliche Neugier, das Gerede im Ort, elterliche Ohrfeigen, Einsamkeit.

Vielleicht habe ich deswegen das Gefühl gehabt, erst weggehen zu müssen, um diesen Landstrich würdigen zu können. Aber ich merke auch, im Dorf würde ich nicht wieder leben wollen. Landei bin ich allerdings geblieben.

Sprache, Menschen, Kindheit. Ich habe lange drüber nachgedacht, inwiefern das auch für mich zur Heimat dazugehört beziehungsweise sie ausmacht. Oder was sonst noch eine Rolle spielt.

Ich kann beipflichten, Sprache ist wichtig. In meinem Alltagsleben hier erlebe ich allerdings meistens ein beinahe akzentfreies Hochdeutsch, so dass Dialekt kaum eine Rolle spielt. Das hiesige Plattdeutsch hat etwas Bäurisches an sich, das leider aber das charmant-schelmische Element vermissen lässt, das man noch weiter nördlich hört. Die Leute hier sind etwas behäbig, und so ist auch ihre Sprache. Berührt das Niederländische mein Ohr, habe ich allerdings schnell das Gefühl von Heimat. Meine eigene Sprache ist aber relativ clean, man würde vermutlich nicht hören, woher ich komme. Da ich mir Sprachen ziemlich freudig und schnell aneignen kann, ist Verlust von muttersprachlichem Umfeld eine Furcht, die mich weniger plagt.

Menschen zu verlieren, fiele mir schon schwerer. Jüngst sahen der Gatte und ich zum wiederholten Mal die wunderbare BBC-Dokumentation "Travels with Palin" auf DVD und waren uns einig, Reisen sind wunderbar, aber voneinander sehr lange getrennt zu sein wäre unerträglich. Wenn ich also schon gehen müsste, dann unter Mitnahme der geliebten Menschen. Schmerzlich wäre eine Trennung von Freunden. Und damit meine ich nicht lose Bekannte oder die Möglichkeit, Leute zu treffen. Ich meine Herzensfreunde. Solche gibt es nur wenige.

Für mich nicht unerheblich mit Heimat verbunden ist aber Landschaft. Die weißen Stämme von Birken und der Geruch von Torf und Heidekraut sind in mein Heimatgedächtnis gewoben, sandige Wege in Kiefernwäldern und hohe Eichen hinter dem Haus, im Nordwesten sanfte Hügel und der Fluss, an dessen Ufer ich oft zu Fuß oder mit dem Fahrrad bin. Die Kanäle, überhaupt das Wasser, und der Wald.

Eigenartigerweise ist Heimat aber auch etwas Abstraktes. Ich könnte meine eigene Frage nach den Grenzen meiner Heimat nicht erschöpfend beantworten. Denn meine Heimat wabert, verschiebt ihre Grenzen, die manchmal ganz eng und manchmal weit sind.

Sie hat Inselchen wie Exklaven, mein Heimatherz ist weiter geworden und hat die Orte mit eingeschlossen, in die es sich verliebt hat. Heimat ist auch das rote Fischgrätpflaster im Hauptort meiner Lieblingsinsel. Heimat ist das Horn der Fähre. Heimat ist das Tickern von Wassersprengern in Südtiroler Apfelplantagen und der Geruch von Abgasen zwischen Bozener Häuserwänden. Heimat ist der Widerhall eines Dieselmotors zwischen hohen, hellverputzten, mit Mönch-und-Nonne-Pfannen belegten Mauern. Heimat ist das Knirschen von Schritten und Reifen auf Kies.

Plätze, nach denen man sehnsuchtet, wenn man nicht da ist, und an denen man sich zu leben vorstellen kann.

Für mich gibt es dann auch noch den Gegenpart zu Heimat. Es gibt Orte, an denen ich nicht leben könnte, und wollte man mich dazu zwingen, dann würde ich eingehen wie eine Pflanze, die kein Licht bekommt. In Großstädten könnte ich nicht leben. An solchen Plätzen reduziert sich für mich der Radius von Heimat. Er hat sich oft genug auf meine Zimmerwände beschränkt, wenn ich in der Stadt gelebt habe. Natürlich kann Großstadt lebendig, urban, interessant sein und auch Heimat, aber dazu müsste sie für mich bestimmte Kriterien erfüllen. Leider merke ich in großen Städten nicht viel von Lebendigkeit. Das kann aber auch ein deutsches Problem sein. Oder eines, das daher rührt, dass ich nicht wüsste, wo ich zu suchen anfangen müsste.

Ein tiefes, innerliches Fremdfühlen hat sich an bestimmten Orten für mich nie gelegt, nie gemäßigt, sondern war dauerhaft hammerhart. Die Empfindung, nicht mit dem Ort im Einklang zu sein und nur dort zu sein, weil man da sein muss. Weil einen laue Kompromisse oder höhere Ziele dazu zwangen.

Es ist eigenartig mit der Heimat. Ich frage mich, ob man sie überhaupt haben kann. Ich kehrte vor Kurzem in ein Stadtviertel meiner Studentenstadt zurück, das ich sehr geliebt habe. Schmale Straßen, Grün dazwischen, hier mal eine rankende Rose, da mal ein rostender Zaun, und hinter den Fassaden kleine Wohnungen oder Zimmer, in denen wir auf Teppich oder Parkett am Boden saßen und redeten, manches Mal bis in die Nacht. Engel & Völkers hat auch dort Wurzeln geschlagen, alles ist zu Tode gentrifiziert, die Kinder tragen artig Fahrradhelme und um die Ecke hat ein schicker Weinladen aufgemacht.

Verändert sich alle Heimat so? Verliert man sie nicht schleichend? Kommen wir vielleicht nur nicht damit klar, dass wir nicht alles konservieren können? Vielleicht werde ich es erst wissen, wenn ich die Heimat, in der ich jetzt zuhause bin, schleichend oder plötzlich verloren haben werde - auf die eine oder andere Art.