Sturmflut
Und noch einmal elf Fragen.
Völlig unverhofft ist mir zum dritten Mal der "Liebster Award" zugeflogen, und zwar aus der Hand von Papapelz (alias Steffen Pelz), dem ich bei Twitter zum ersten Mal auf die Spur kam und dessen Blog ich gleich mochte.

Zwar schreibt er unter dem Titel "20 Dinge über mich" eine siebenundzwanzigpunktige Liste auf und bemerkt beinahe beiläufig unter Punkt 18, dass er keine Listen mag. Dennoch hat er auch das Beantworten der 11 Fragen von Bloggerin Séverine mit viel Herzblut in Angriff genommen, als sie ihm ihrerseits den "Liebster Award" verlieh. Das ist sehr lesenswert.

Da schließe ich mich gern an und beantworte meinerseits die 11 Fragen, die er gestellt hat.

1. Gibt es einen Menschen, dem du schon immer mal die Meinung sagen wolltest, es aber noch nie getan hast? Und wenn ja: warum?

Das ist ganz klar mein Vater. Früher sagte ich ihm nie die Meinung, weil ich Angst hatte, ihn zu einem Zornesausbruch zu reizen oder von ihm abgelehnt zu werden. Heute bin ich mir gar nicht sicher, ob es mir irgend etwas bringen würde, auch wenn es vieles gibt, was ich gerne mal sagen würde und ich manches Mal immer noch vor Wut auf ihn koche.

2. Was ist deiner Meinung nach der Weg zu einer zukunftsfähigen Welt?

Wir müssen uns vom Dogma des ewigen Wachstums verabschieden. Der Turbokapitalismus ist menschenverachtend und vernichtet die Vielfalt und das Leben. Er reduziert uns in unseren Eigenheiten, Empfindungs-, Verhaltens- und Gestaltungsmöglichkeiten und zerstört unsere Umwelt.

Im Austausch für diese Opfer erhalten wir nur ein kaltes Gefühlssurrogat namens Konsum und wundern uns, dass die innere Leere bestehen bleibt. Ich finde, es wäre ein Anfang, über die Dinge hinwegzudenken, die wir zur Zeit als gegeben hinnehmen und uns zu überlegen, wie wir wirklich leben wollen.

3. Unter allen Emotionen, die dir eigen sind: Welche ist deine schwierigste und wie versuchst du, sie in dein Leben zu integrieren?

Meine Angst steht mir oft im Weg. Sie hält mich nachts wach. Sie hindert mich an vielem. Oft ist es aber auch umgekehrt: Sie hält mich unter Dauerstress und sorgt dafür, dass ich mehr und andere Dinge tue, als ich will. Sie ist manchmal übermächtig, und ich empfinde sie als lebensfeindlich. So, wie diese Angst ist, verkehrt sie ihren ursprünglichen Zweck als Warnung vor Schädlichem ins Gegenteil.

Ich versuche sie zu akzeptieren und erst einmal nur festzustellen, dass sie da ist. Zu beobachten, anstatt krampfhaft dagegen zu kämpfen. Ich versuche, hinzuhören, was sie mir sagen will. Aber ich nehme an, sie wird mich immer begleiten – mal mehr, mal weniger heftig, und vielleicht im Laufe der Zeit schwächer. Völlig frei von Angst zu sein, gelingt glaube ich niemandem. Das stimmt mich ein kleines bisschen milder.

4. Das EINE Ding im Leben, das du anders machen würdest, wenn du die Zeit zurückdrehen könntest?

Etwas Konkretes, das ich wirklich bereue, gibt es nicht. Hingegen viele Umstände, die ich bedauere, auf die ich aber nur begrenzt Einfluss hatte, weil sie nun einmal Teil meiner Geschichte sind und dazu geführt haben, dass ich der Mensch bin, der ich bin.

Aus heutiger Sicht hätte ich nach meinem Schulabschluss gerne anders weitergemacht, als ich das tatsächlich konnte. Es fehlte mir damals an Selbstvertrauen und Mut, um herauszufinden, was ich selbst wirklich wollte. Das hat zu vielen, vielen vergeblich studierten Semestern geführt und dazu, dass ich einsam in einer Stadt festsaß, in der ich nicht wirklich sein wollte. Im Rückblick hätte ich gerne weit weniger Druck gehabt und mehr Wertschätzung meiner Fähigkeiten, mehr Ermutigung. Auch von mir selbst.

Ich bin im Nachhinein auch enorm traurig darüber, viel Kraft und Zeit darauf verwendet zu haben, den Wünschen anderer zu entsprechen und mich einstweilen irgendwie zusammenzuhalten oder auch immer wieder neu zusammenzufügen. Ich war zu lange mit Überleben statt mit Leben beschäftigt, aber es ging nicht anders.

Aber ich hadere nicht mit mir. Nicht mehr. Dazu ist das Leben zu kurz.

5. Welcher Wesenszug des dir nächsten Menschen ist für dich die größte Herausforderung?

Der Umstand, dass wir manches Mal ein unterschiedliches Tempo haben. Zu reden, zu denken, zu sein. Während ihm vieles zu langsam ist, ist mir vieles zu schnell. Dann ist es schwer, befriedigend zu kommunizieren. Das geht manchmal nur über Umwege.

6. Was ist für dich der Schlüssel zum Glück?

Radikale, wertungsfreie Selbstakzeptanz. Dazu gehört auch das Akzeptieren des Umstandes, dass es immerwährendes Glück nicht geben kann und man den Wunsch danach loslassen muss.

7. Welche fünf Bücher sollte jeder Mensch gelesen haben?

Schwer zu sagen. Einen Draht zu Klassikern hatte ich nie, und generell habe ich in letzter Zeit wenig Prosa gelesen. Jeder sollte definitiv das lesen, was ihn innerlich berührt, eine Saite in ihm zum Schwingen bringt, ihm etwas sagt und gibt. Das kann ja für jeden etwas anderes sein.

Lesetipps kann ich trotzdem geben. Ich mochte beispielsweise sehr "Bevor alles verschwindet" von Annika Scheffel. Das Buch erzählt die Geschichte eines untergehenden Dorfes und seiner Menschen auf leicht schräge, komische und zugleich oft sehr schmerzliche Art. Mehr verrate ich an dieser Stelle nicht.

Überhaupt habe ich eine Schwäche für Erzählungen über Menschen und Widrigkeiten, und für einen großen Meister in dieser Sache halte ich Stewart O'Nan. In mancher Rezension liest man, in seinen Büchern "passiere ja nichts", aber das sehe ich ganz anders. Sogartig in ihren Bann gezogen haben mich "Das Glück der Anderen" und "Halloween", aber auch "Alle, alle lieben Dich", "Engel im Schnee" und "Eine gute Ehefrau".

Auch Magriet de Moors "Sturmflut" gehört zu meinen Favoriten. Wie die Geschichten von Stewart O'Nan erzählt auch dieser Roman von menschlichem Zerrissensein, dieses Mal vor dem Hintergrund der Großen Sturmflut (Watersnoodramp) 1953 in den Niederlanden. Irgendwie mein Thema.

Mit meiner depressiven Seite korrespondieren die Werke von Hermann Hesse.

Aber wie gesagt: Jeder sollte lesen, was ihm passt.

8. Was sind deine bisherigen Erfahrungen beim Treffen von Menschen, die du über das Internet kennengelernt hast?

Getroffen habe ich nur wenige. Manche Menschen waren ganz anders, als ich vermutet habe. Bei einem besonderen Menschen war es, als kenne ich sie schon ewig. Leider liegen viele Kilometer zwischen uns, so dass sich das nicht so ganz einfach wiederholen lässt. Aber genau das ist unter anderem das Spannende am Internet, dass es einem gelingt, auch über weite Entfernungen Verbindungen herzustellen, die halten.

Manche Kontakte funktionieren auch nur über die Distanz, weil sie notwendige Bedingung ist. Vielleicht, weil man selbst oder das Gegenüber mehr Nähe in dieser spezifischen Begegnung nicht aushalten würde.

Es gibt auch so manche Menschen, die ich gern kennenlernen würde, insbesondere, seit ich mich bei Twitter angemeldet habe. Ich bin da ja noch ein relativer Neuling. Aber ich bilde mir ein, dass man die Authentizität auch zwischen 140 Zeichen spüren kann, und auf solche Leute bin ich neugierig. Manche twittern ganz anders, als sie bloggen, und das fügt meiner Vorstellung von ihnen manche Facette hinzu.

Hier auf dem platten Land vermisse ich manchmal die langen, konstruktiven und zugleich kontroversen Diskussionen, die wir an der Uni führten, und ich kann mir vorstellen, sie bei Treffen mit manchen Netzleuten zu haben. Ich stelle mir das bereichernd vor. Mein mageres Lehrlingsgehalt hindert mich leider an allzu großen Sprüngen in Sachen Reisen.

9. Gibt es Dinge, die du mit ins Grab nehmen wirst, weil niemand anderes sie kennt?

Sicher.

10. Was nimmst du dir für’s nächste Leben vor?

Interessant ist erst mal, was der Rest von meinem jetzigen mir zu bieten hat. Da habe ich mir über mein nächstes noch keine Gedanken gemacht. Und ich bin gespannt, ob hinter der Grenze, die wir irgendwann alle überschreiten, tatsächlich so etwas wie eine Fortsetzung oder eine nächste Runde auf uns wartet.
Wenn ich die Frage jetzt aber mal so symbolisch auffasse, wie sie vermutlich gemeint war: Leben. Vor allem in Beziehung sein, mit Gefühlen leben und mit allen Sinnen. Erleben, was da kommt.

11. Wieviele Stunden bräuchte dein Tag, damit du alles unter bekommst, was du gern erledigen/erleben würdest?

Ich habe eigentlich chronisch das Gefühl, zu wenig Zeit zu haben. Also müsste ich antworten, der Tag bräuchte eigentlich mindestens 36 Stunden, oder, oder, oder. Vielleicht verbringe ich aber auch einfach zu viel Zeit mit Dingen, die ich nicht wirklich tun will. Oder damit, mich von den Tätigkeiten zu erholen, die meine Kraft kosten. Ich bedauere sehr, nicht mehr Zeit für Kreatives, Handwerkliches, für Musik, Zwischenmenschliches und für das Draußensein in der Natur zu haben. Ich kann mir auch kaum vorstellen, dass mir langweilig wird.

Trotzdem: Vielleicht wird es in nicht allzu ferner Zukunft Zeit, die Prioritäten neu zu ordnen, was das betrifft. Denn man kann es drehen und wenden, wie man will, der Tag hat nur 24 Stunden.

Meine neuen Fragen für die, die Lust haben, sie zu beantworten:

1. Wenn Sie etwas doch ändern könnten, vom dem Sie zur Zeit überzeugt sind, dass es nicht zu ändern ist, was genau wäre das?

2. In welchen Situationen fühlen Sie sich besonders lebendig?

3. Wie würden Sie den Platz gestalten, an dem Sie leben, wenn Sie alle Möglichkeiten dazu hätten?

4. Was wünschen Sie sich für die Zeit Ihres Altwerdens?

5. Wie sind die Menschen, mit denen Sie Ihr Leben teilen möchten?

6. Wie die, mit denen Sie es teilen?

7. Und wie sind die, mit denen Sie es teilen müssen?

8. Welche verlorengegangenen Eigenschaften vermissen Sie an sich selbst?

9. Gibt es eine Überzeugung, an die Sie früher felsenfest geglaubt haben, die jetzt aber für Sie überholt ist? Wie fühlt es sich an, daran zu denken?

10. Womit befassen Sie sich, wenn Zeit keine Rolle spielt?

11. An welchem Ort fühl(t)en Sie sich sich selbst am nahesten?


Ich nominiere, so die Genannten denn die Fragen gern beantworten möchten:

Kristof
Tama
Frau Kopfschütteln
Geschnetzeltes
Giardino
Meg
Wilde Worte
Susannah, Tonfarbe
Trippmadam
Flohbude
Uwe Hauck