Sturmflut
Dienstag, 29. Juni 2010
Gedanken- und Gefühlsdiktatoren
Die Gedanken sind frei. Dachte ich immer. Natürlich ist keiner unbeeinflusst in dem, was er fühlt und denkt. Mitmenschen und ihre Ansichten prägen uns. Unser Umfeld hat Einfluss darauf, wie wir uns entwickeln und welche moralischen Maßstäbe wir an unser und anderer Menschen Denken, Fühlen und Leben anlegen. Der Glaube an die völlige Eigenständigkeit ist vielleicht naiv. Aber trotzdem ist es letzten Endes meine Entscheidung, was ich denke, wie ich fühle und handele - und wie ich mich entscheide, ist meine Sache.

Aber es gibt Menschen, die das anders sehen. So mancher maßt sich an, genau zu wissen, was richtig und was falsch ist, wenn es um das Denken und Fühlen anderer geht. Er achtet mit Argusaugen darauf, welche Lebensäußerungen seines Umfeldes mit seinen eigenen Vorstellungen kollidieren. Das an sich wäre noch nicht weiter tragisch, wenn er es denn unterließe, die Differenzen so beharrlich zu betonen. Der Mensch definiert sich immer ein Stück weit über die Unterscheidung zu anderen Menschen, aber derlei besondere und wiederholte Abgrenzung gipfelt manches Mal in Übertreibung.

Diese Übertreibung umfasst die ganze Palette vom rustikalen Stammtisch-Gerede bis hin zur sophisticated wirkenden Analyse der Mitmenschen. Nur scheinbar gibt es zwischen diesen beiden Polen eine Qualitätsteigerung der enthaltenen Kritik. Schließlich sind aber nur die Wortgewänder komplexer und der Ausdruck gewählter.

Niemand hat etwas gegen Meinungsäußerungen, und ein gewisses Maß an Polemik ist nur allzu menschlich. Aber diese Art der inneren Fremdenfeindlichkeit ist immer mit der Abwertung der anderen verbunden. Der Tenor ist: „Nur wer mir gleich ist, ist mir genehm. Alle anderen sind dumm bis massiv unterbelichtet, sprachlich unfähig, sitten- oder ehrlos, peinlich, mir von Natur aus untergeordnet, (hier weiteres einsetzen)!“ Dabei nimmt sich ein solcher Mensch dann auch gleich die Definitionsmacht heraus, was denn eigentlich "dumm" ist. Diese permanente Selbsterhöhung mittels Erniedrigung anderer ist etwas völlig anderes als Kritik. Sie ist grundsätzlich verschieden davon, einfach nur zu sagen „Ich mag den nicht...!“ oder „Ich sehe es so...". Der Gedankendiktator macht sich dadurch unangreifbar, dass er "Feststellungen" darüber trifft, wie die Dinge “sind“. Das befähigt ihn auch dazu, seine Sichtweise immer wieder damit zu begründen, dass „es nun einmal so sei“ - ein Argument, das auf derselben Diskussionsebene nicht zu widerlegen ist. Ganz ähnlich gilt das auch für Gefühle. Wenn einem derart veranlagten Menschen das Gefühl eines anderen nicht in den Kram passt, dann betont er, dass es ja "nur" ein Gefühl sei und deshalb nicht weiter relevant.

Das alles wäre halb so wild, wenn es in dieser Welt nur gefestigte, selbstbewusste Menschen gäbe. Wer in seinen Gefühlen und Gedanken aber nicht so frei ist, sondern sehr abhängig von den Ansichten und Beurteilungen anderer, der wird durch solche Absolutisten sehr schnell verletzt.

Man könnte beinahe meinen, so ein Gedankendiktator lege es darauf an, solche Verletzungen zu verursachen, aber ich denke nicht, dass das der Fall ist.

Ein Mensch, der permanent behauptet „Alle blöd außer mir!“ ist so infantil, dass er das Gegenüber als menschliche Person gar nicht wahrnimmt. Der andere ist ihm nur Instrument zur eigenen Festigung. Diese unerwachsene Haltung kann er aber selbst gar nicht erkennen, weil ihm Selbsterkenntnis und Selbstkritik fremd sind (es sei denn, er hätte davon einen wie auch immer gearteten Nutzen). Zu sehr zöge ein selbstkritisches Verhalten seine sichere Basis in Zweifel. An dem Aufwand, den ein Gedankendiktator betreibt, um seine Umwelt als stupide Zumutung zu schildern, lässt sich die Verzweiflung erkennen, die in seinem Innern herrschen muss.

Einem Gedankendiktator kommt es nicht darauf an, sich die Welt gleich zu machen. Damit fiele schließlich die Möglichkeit unter den Tisch, sich mit anderen zu vergleichen und immer wieder feststellen zu dürfen, wie überragend intelligent und überlegen man selbst ist.

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