Sturmflut
Sonntag, 3. Januar 2016
"Ich muss erstmal
das Schlimmste annehmen!"
Es gibt da so ein Klischee, das wie wohl alle Klischees seine Wurzeln im realen Leben hat und für diejenigen, die es erleben, weit mehr ist als das. Die Situation: Eine Frau ist nachts allein unterwegs, geht im Dunkeln einen Bürgersteig entlang und hört plötzlich hinter sich Schritte, die ihr lange Zeit in einem gleichmäßigen Abstand folgen. Sie wirft einen Blick über ihre Schulter. Sie sieht, es ist ein Mann. Der geht auch nicht weg. Sie bekommt Angst.

Das ist mir auch schon mal passiert, mit dem Unterschied, dass der Verfolger ein Auto hatte, mit dem er immer wieder an mir vorbei fuhr. Nicht weit von meiner Wohnung stieg er dann aus und folgte mir zu Fuß. Auch ich kriegte Panik, beschleunigte meinen Schritt, sah immer wieder zurück und war erleichtert, als ich schließlich meine Haustür hinter mir schließen konnte. Mir klopfte das Herz bis zum Hals, und ich machte erstmal kein Licht in meiner Wohnung. Ich wollte keinen Hinweis liefern, hinter welcher Tür ich verschwunden war.

Neben meiner Angst fühlte ich aber noch etwas anderes: unfassbare Wut. Ich hatte mich wegen dieses Typens verkrochen! Er hatte die Macht, mich von der Straße in den Schutz meiner Wohnung zu drängen. Ein bis dahin wunderbarer, sommernächtlicher Stadtspaziergang war mir von jemandem verdorben worden, der meinte, sich mir gegenüber bedrohlich verhalten zu dürfen. Die Wut steigerte sich noch, als ich einer Beamtin auf dem Polizeirevier davon erzählte. "Was sind Sie auch so spät noch allein auf der Straße? Das ist halt gefährlich!" Bis dahin war ich ständig nachts in meiner 160.000-Einwohner-Stadt unterwegs gewesen, auch oft allein und zu Fuß oder in öffentlichen Verkehrsmitteln. Mir passierte niemals etwas. Natürlich wurde ich hier und da mal angesprochen oder angepöbelt und hatte auch manches Mal Angst. Aber das hat mich nie davon abgehalten, grundsätzlich davon auszugehen, dass ich genau dieselbe Berechtigung habe, auf der Straße zu sein wie jeder andere Mensch auch. Also war ich auch auf der Straße.

Wenn mir tatsächlich mal was passiert wäre, dann hätten sicher einige Menschen gesagt, ich sei daran selbst schuld gewesen. Das nennt man "victim blaming", die Täter-Opfer-Umkehr. Ihr liegt die Fehlannahme zugrunde, dass Opfer zu ihrem Opfersein etwas beigetragen oder es sogar selbst verursacht hätten. Das ist im Falle von Vergewaltigungen beispielsweise der berüchtigte zu kurze Rock, der zu tiefe Ausschnitt, das zu späte oder fehlende "Nein". (Nicht, dass ein "Nein" in der Rechtsprechung unseres Landes ohnehin allzu viel wert wäre.) Oder eben auch die Unverschämtheit, sich zu später Stunde allein draußen aufgehalten zu haben. "Was sind Sie auch so spät noch allein auf der Straße?"

Neulich las ich bei Twitter den dringenden Aufruf einer Frau an die Männer, sich doch bitte genau zu überlegen, ob sie eventuell bedrohlich wirken könnten, bevor sie auf Frauen zugehen, sie ansprechen, ihnen nahekommen. Sie bat Männer, die hinter einer Frau liefen darum, schnell zu überholen oder die Straßenseite zu wechseln, damit die Frau nicht in Angst oder gar Panik ausbrechen müsse. Ich habe tatsächlich keine Schwierigkeiten, mich in die Lage eines (möglichen) Opfers hineinzuversetzen und die Bitte nachzuvollziehen. Zwar bin ich in meinem Leben noch niemals vergewaltigt worden. Begrapscht hat mich in der Öffentlichkeit auch noch niemand, und bis auf diesen einen nächtlichen Vorfall hat mich auch noch kein Mann nachts im Dunkel verfolgt. Dafür kenne ich ziemlich gut das Gefühl, im eigenen Haus, im eigenen Zimmer, im eigenen Bett nicht sicher zu sein. Meine ganz persönliche Panik und mein inneres Erstarren kenne ich von Schritten im Flur vor der Tür meines Kinderzimmers. Das lasse ich mal so stehen.

Ich bestreite nicht, dass die Gewalt, die gegen Frauen ausgeübt wird, strukturell prägend für unsere Gesellschaft ist. Sie ist permanent vorhanden, und ich kann sie selber ebenfalls spüren - öfter, als ich sie benennen kann. Mit dem häufig gebrauchten Begriff der "rape culture" befinde ich mich noch in Auseinandersetzung. Ich sehe die Eigenverantwortung eines jeden Mannes, nicht zum Vergewaltiger oder Belästiger zu werden - da kann der Rock noch so kurz, der Alkoholpegel noch so hoch und die Stunde noch so spät sein. Wenn ich eins nicht ausstehen kann, dann dass man traumatisierten oder psychisch anderweitig leidenden Menschen den "guten" Rat mit auf den Weg gibt, sie müssten doch "einfach nur" an ihrer Einstellung arbeiten. So einfach ist das nicht. Aber etwas in mir wehrt sich gegen diese Sippenhaft für Männer. Ist es sofort "victim blaming", wenn ich festhalte, dass es unfair ist, alle Männer pauschal als Bedrohung und somit als potentielle sexuelle Straftäter zu betrachten? Ist es "victim blaming", wenn ich finde, dass es unsere Aufgabe als Gesellschaft aus Männern und Frauen ist, etwas zu ändern?

Es wäre mir zu doof, demütig "die" Männer darum zu bitten, doch sanft und rücksichtsvoll mit uns Frauen umzugehen, weil wir eventuell in unserer Vergangenheit von ihren Geschlechtsgenossen verletzt und traumatisiert worden sein könnten. Die Wut, die man als Opfer zunächst gerechtfertigterweise noch auf den Täter verspürt, wendet sich langsam aber sicher gegen das eigene Innere und frisst es auf und lässt nichts als das Gefühl von Wertlosigkeit und hoffnungsloser Unterlegenheit zurück. Aber diese Wut gehört raus. Sie gehört in Selbstermächtigung und Wehrsamkeit investiert. Genau so eine Haltung kann einem allerdings ganz schnell als "victim blaming" ausgelegt werden, weil sie so verstanden werden kann, als sei es Aufgabe der Opfer, das Verbrechen zu verhindern. Das ist es niemals. Es ist auch nicht in Ordnung, die Mühe der Veränderung allein auf das individuelle Opfer abzuladen. Gegen eine strukturelle Gewalt kann das keine Lösung sein.

Spüre ich wiederkehrende Panik und Angst, dann sollte mir dennoch auch klar sein, dass ich das Recht auf Hilfe und Heilung habe. Anzuerkennen, dass man Opfer wurde und vielleicht auch immer noch ist (in unterschiedlicher Ausprägung), halte ich für wichtig. Ich denke, wenn man den erlittenen und aktuellen Schmerz und die Einschränkungen nicht spürt, vertut man die Chance, gut zu sich selbst zu sein und sich darüber hinaus zu entwickeln. Spüre ich Wut wegen der Begrenzungen und Gewalttaten meines Alltags, dann sollte ich mir dennoch erlauben, mich zur Wehr zu setzen. Ich sollte mich entscheiden dürfen, kein Opfer werden zu wollen, ohne dass mir zur Last gelegt werden darf, dass ich trotzdem eines wurde oder werde. Ich glaube, wir unterschätzen chronisch unsere eigenen Möglichkeit zur Veränderung, auch zur Veränderung der Strukturen.

Ich handele in meinem eigenen besten Interesse, wenn ich mir diese Möglichkeiten klar mache, ohne zu verkennen, was mir in der Vergangenheit an Schmerz und Gewalt angetan wurde. Auch wenn ich das Schlimmste erlebt habe, muss ich für die Zukunft nicht weiterhin vom Schlimmsten ausgehen, wie es mir die erwähnte Twitterin schrieb. Ich habe mich selbst in einer Therapiesitzung einmal mit einem Reh verglichen, das im Licht der Scheinwerfer steht - geblendet und gelähmt. Die Blendung, die uns mit auf den Weg gegeben wird, besteht darin, dass uns permanent gesagt und gezeigt wird, wir seien machtlos. Wir sind aber nicht die geborenen Opfer, so wie Männer nicht die geborenen Täter sind.

Wir werden dazu erzogen, und zwar unter anderem durch unsere Mütter. "Nimm Dich in Acht", "Pass auf mit den Jungs", "Sei vorsichtig" - das "Aufpassen" ist so vollkommen die Pflicht der Mädchen und Frauen. Das transportiert eine Schicksalsergebenheit, ein ständiges Abwehren und Reagieren "dem" Mann gegenüber, das seine Täterschaft und das eigene Opfersein schon mit einschließt. Unabhängig davon, dass diese Haltung der Mütter wiederum selbst erlebter struktureller Gewalt entsprang, besteht die Möglichkeit und Notwendigkeit, sie zu überwinden. "Stimmt ja gar nicht!" - das ist der wichtigste Widerspruch gegen all die alteingefahrenen Annahmen, die uns zu Opfern machen. Die anerzogene Angepasstheit, die uns als Frauen unser Verhalten darauf ausrichten lässt, möglichst bei niemandem in Ungnade zu fallen, ist ein Problem. Die Bitte an "die" Männer, uns Frauen möglichst rücksichtsvoll und allzeit mit vorausgreifender Vorsicht zu behandeln, betrachte ich als konsequenten Bestandteil desselben Musters und als Kehrseite dieser Medaille.

Sorry, aber eine "feministische" Haltung, die weiter lediglich auf dem permanenten Opferstatus von Frauen beharrt, ist nicht mein Feminismus. Mir greift diese Perspektive einfach zu kurz. Wie soll sich da jemals etwas verändern?

Edit: Wenn aus 20 Kommentaren fünf werden: Der "Zeilenjaeger" hat seine sämtlichen Kommentare gelöscht. Über die Motivation dazu kann ich nur spekulieren. Ich spekuliere, dass es daran liegt, dass ich mich nicht von seiner Meinung überzeugen ließ. Wem der Kommentarstrang "zerschossen" vorkommt - stimmt, er ist zerschossen. Leider verschwanden mit den Löschungen des "Zeilenjaegers" auch andere, hierarchisch untergeordnete Kommentare. Ich lasse meine eigenen Antworten darauf trotzdem stehen. Die aktuelle Diskussion drehte sich um die Geschehnisse am Kölner Hauptbahnhof und ihren Bezug zu diesem Ausgangsartikel.

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Donnerstag, 24. Dezember 2015
Gedanken zur Weihnacht
Noch nie war mir Weihnachten so gleichgültig wie in diesem Jahr. Ich hatte keinen Geschenkestress, weil es (außer an die Nichten und Neffen) nichts zu verschenken gab. Das mag kaltherzig klingen, und vielleicht ist es das auch. Es gibt durchaus Menschen, die eine liebe Karte oder eine anderweitige Aufmerksamkeit verdient hätten, in diesem Jahr aber von mir keine bekamen. Aus Gründen. Ich hoffe sehr, die Betreffenden sehen mir das nach. Mit unseren Freunden haben wir einen Pakt, nichts zu schenken. Dieselbe Vereinbarung habe ich auch mit dem Gatten. Und sie funktioniert - wir hatten nicht einmal diese "Eigentlich schenken wir uns ja nichts, aber hier trotzdem eine Kleinigkeit!"-Geschenke. Ich finde das sehr, sehr wohltuend.

Ich hatte noch für einen Moment über Dekoration im Haus nachgedacht, aber auch das schließlich sein lassen. Unter den Kollegen herrschte Unverständnis angesichts der Tatsache, dass wir keinen Baum haben. Vielleicht drapiere ich mal ein paar von den großen Zapfen auf dem Tisch, die ich von der Insel mitgebracht habe und so mag. Aber ich habe mir nichts bewusst vorgenommen. Mir fehlt da nichts. Es ist gemütlich genug, Kerzen und Tee tun ein Übriges.

Das alles liegt nicht unbedingt daran, dass wir beide Atheisten sind. So losgelöst, wie dieses Fest ohnehin inzwischen von seinem Ursprung ist, wäre das nichtmal ein stichhaltiger Grund. Ich mag die Feiertage, weil sie eine kleine Auszeit vom Arbeitsalltag bieten und man zumindest ansatzweise zur Ruhe kommt. Ich mag auch (in Maßen) die Beleuchtung in den Gärten und an den Häusern, weil es draußen einfach gerade deutlich zu dunkel ist.

Aber insgesamt stehe ich dem ganzen Weihnachtsfest mit zunehmendem Befremden gegenüber. Das besteht nicht so sehr darin, dass ich die Wünsche der Menschen nach Zusammensein, Familie, Glück und vielleicht auch Trost im dunklen Winter nicht nachvollziehen könnte. Ich wünsche mir bisweilen dasselbe. Aber mir fehlt inzwischen völlig der Draht dazu. Zu der christlichen Überlieferung ebenso wie zu dem ganzen kommerziellen und emotionsüberladenen Drumherum.

Bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen es mich in die Innenstadt verschlug, kam ich mir vor wie eine Außerirdische. Dieses ganze Plastikgedöns, das Trallalla, den Kaufrausch und Glühweindunst finde ich einfach nur abstoßend. Wie üblich. Ich habe natürlich auch einige materielle Wünsche, die ich mir gern mal erfüllen würde. Aber zwischen Wunsch und Wahnsinn liegen halt doch Welten.

Gerade in diesem Jahr spüre ich große Erleichterung und Freude darüber, dass ich die Zeit mit meinen Freunden und der selbstgewählten Schwiegerfamilie zusammen verbringen darf. Mich bindet an meine Ursprungsfamilie nicht länger das schlechte Gewissen, nicht da zu sein und ihnen keine "gute Tochter" zu sein - insbesondere an den mit Erwartungen an die allgemeine Harmonie überfrachteten Feiertagen. Das ist vorbei. Ich bin froh, wie leicht es mir fällt, all dem den Rücken zuzuwenden.

Weihnachten ist eine Reihe arbeitsfreier Tage für mich, ohne tiefere Bedeutung. Ich bin froh, dass die christlichen Festtage noch als eine Art Bastion gegen die totale Vereinnahmung durch das Arbeitsleben fungieren können. Immerhin. Aber inhaltlich verbinde ich nichts damit. Morgen werden der Gatte und ich gemeinsam kochen und essen, vielleicht ein Stück spazieren gehen, durchatmen, gemeinsam etwas spielen. Uns etwas Gutes tun. Das ist so oder so das ganze Jahr über wichtig.

Weihnachten also. Trotzdem wünsche ich allen, denen es etwas bedeutet, ein schönes Fest.

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Sonntag, 20. Dezember 2015
Das Verhältnis zu Hochprozentigem
Gestern abend traf sich die weitläufigere Schwiegerverwandtschaft wieder einmal in der Gartenhütte der Eltern meiner Schwägerin zum alljährlichen "Weihnachtsmann"-Auftritt für die Kinder der Familie. Die Hütte ist wirklich gemütlich, an allen Wänden entlang gibt es Bänke und in der Mitte eine viereckige Feuerstelle. Alles war weihnachtlich dekoriert, nur draußen war es mindestens zehn Grad zu warm. Daran ließ sich aber kaum etwas ändern.

Der Kühlschrank in der Ecke war gut gefüllt, und der "Weihnachtsmann", der kam, hatte in seinem Sack auch kleine Geschenke für die Erwachsenen. Für die Männer Tüten mit Nüssen und "Mümmelmann", für die Frauen Flaschen von Schwiegermutters selbstaufgesetztem Brombeer-Likör.

Ich staune immer wieder, wie präsent der Alkohol ist. Er ist gesellschaftlich total akzeptiert als Mittel, "locker" zu werden, Spaß zu haben, sich die Kante zu geben, zu vergessen. Auch in meinem Elternhaus wurde nicht eben wenig getrunken, aber in der Schwiegerfamilie ist das noch extremer. Die Mutter meiner Schwägerin geht einem beinahe an den Kragen, wenn man sagt, dass man nichts trinken möchte. Man gilt automatisch als Spaßbremse.

Nun ist es so, dass weder der Gatte noch ich selbst besonders viel Alkohol trinken. Er mag dreimal im Jahr Cola mit Korn, ich hatte bereits während meiner ersten Therapie mit täglicher Meditation begonnen und also mit dem Trinken aufgehört. Nicht etwa aus kruden, esoterischen Gründen, sondern weil man bei der Meditation einen klaren Kopf braucht. Sonst braucht man sich dazu gar nicht erst hinzusetzen.

Seitdem vertrage ich deutlich weniger - man kann sich schon auch entwöhnen. Ich hatte nie wieder das Bedürfnis, mich groß neu zu gewöhnen. Im Schrank steht eine Flasche mit ibizenkischem "Hierbas" und manchmal auch mit gutem Single Malt Whiskey, aber da bleibt es üblicherweise bei einem, vielleicht zwei kleinen Gläsern. Im Sommer mal ein kühles Bier nach der Gartenarbeit, beim Grillen oder am See. Damit hat es sich.

Seit ungefähr anderthalb Monaten nehme ich jetzt ein Antidepressivum, und das schließt gleichzeitigen Alkoholkonsum aus. Es fällt mir nicht besonders schwer, keinen Alkohol zu trinken. Von Verzicht will ich gar nicht sprechen. Aber zu Gelegenheiten wie gestern spüre ich dann doch wieder deutlich, dass ich da eher die Ausnahme bin als die Regel. Und das erschreckt mich oft. Ich hatte meine Schwiegermutter in einer stillen Minute informiert, dass ich Medikamente nehme, die sich mit Alkohol nicht vertragen. Damit wollte ich Überredungsversuche in der Hütte später verhindern.

Insbesondere die Mutter meiner Schwägerin hat allerdings ein wirklich inniges Verhältnis zu Hochprozentigem. Der einzige akzeptierte Grund, nichts zu trinken ist für sie eine Schwangerschaft. Ich finde das enorm anstrengend. Und dann stand sie neben mir und stellte fest, dass ich einige Kilos verloren habe, und fragte nach, wie ich das denn bewerkstelligt hätte. Ich fing gar nicht erst an, von den Medikamenten zu reden, die Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust mit sich bringen können. Ich war für einen Moment geneigt, ihr zu sagen: "Sauf einfach weniger!" Schließlich ist Alkohol kalorienhaltig ohne Ende.

Aber es geht niemals ohne. Nicht einmal mein Schwiegervater, der in jüngster Zeit mehrere Schlag- und epileptische Anfälle erlitt, schafft die Abstinenz.

Und ich höre die Stimmen: "Soll man denn überhaupt keinen Spaß mehr haben?" Tja, wem es Spaß macht, sich regelmäßig abzuschießen... Mir macht es keinen Spaß, nachts mit Herzklopfen aufzuwachen, wenn der Alkoholpegel sinkt. Und am Tag danach zittrig und mit Kopfschmerzen erst einmal Erholung zu brauchen und mir die Wochenenden zu versauen. Ich finde es auch nicht im Geringsten spaßig, die Kontrolle zu verlieren, sich daneben zu benehmen oder anderen auf die Schuhe zu kotzen. Und staune, wenn längst erwachsene Leute aus dem Kollegium breit grinsend davon erzählen, dass sie regelmäßig einen Filmriss haben.

Der Abend in der Hütte war trotzdem durchaus nett. Aber ich denke oft, ohne Alkohol oder wenigstens ohne die grundsätzliche Annahme, nur mit sei es wirklich lustig, wäre es tatsächlich noch besser. Es nervt, sich für das Nichttrinken rechtfertigen zu müssen und auch, dafür durch den Kakao gezogen zu werden. Letztlich hilft da nur Konsequenz. Hand über das Glas halten, wenn es heißt "Ach komm, einen kannste doch noch!" Nein sagen. Ganz egal, ob man am Ende als Spaßbremse dasteht.

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Samstag, 5. September 2015
Ach Du liebe Zeit...!
Die Zeit titelt diese Woche mit der Schlagzeile "Was man nicht mehr sagen darf. Ein paar Handreichungen gegen den Gesinnungsterror."

Ach, Du liebe Zeit!

Erstens: Ich halte es für äußerst unklug, gerade jetzt einen Artikel mit solchen Begrifflichkeiten zu überschreiben. Denn Sätze wie "Das wird man ja wohl noch mal sagen dürfen!" kommen bekanntermaßen bevorzugt aus den Mündern derer, die in der letzten Zeit Asylanten und Flüchtlinge "kritisieren" oder sich anderweitig gegen die Errungenschaften einer demokratischen und freiheitlichen Gesellschaftsordnung wenden. Und "Gesinnungsterror"? Das ist jetzt nicht Dein Ernst, liebe Zeit!

Paradox daran ist auch, dass jegliche Kritik an diesem journalistischen Fehlgriff nur die These befeuert, man dürfe eben nicht mehr alles sagen. Selten war eine Artikelschreiberin mit so viel Schwachsinn argumentatorisch so sehr auf der sicheren Seite.

Zweitens: Es ist nicht mehr als eine These, die Iris Radisch da für die Zeit verbreitet. Es ist ein einziges wehleidiges Gejammer über einen lediglich gefühlten Zustand. Radisch selbst schreibt, es ginge dabei nicht um Fakten, sondern um eine Stimmungslage. Dann sollte sie aber auch nicht schreiben, man dürfe bestimmte Dinge nicht mehr sagen. Und mit Verlaub, von Terror kann überhaupt nicht die Rede sein.

In diesem Land herrscht Meinungsfreiheit. Sowohl Iris Radisch als auch alle anderen Menschen dürfen alles sagen. Sie haben nur kein verbrieftes Recht darauf, dass niemand protestiert, niemand kritisiert und alle applaudieren. Das ist natürlich eine enorme Kränkung. Wenn sich die gesellschaftliche Stimmung dahingehend ändert, dass die Menschen sensibler auf die Diskriminierung von Minderheiten reagieren, dann muss sich mancher sagen lassen, dass man ihn (oder sie) für einen Rassisten, Sexisten, Lookisten, Ableisten oder was auch immer hält. Das dürfte manchen nicht schmecken.

Da ereifert man sich dann über übertriebene Political Correctness (kurz PC, von Frau Radisch aus vielleicht nicht so weit hergeholtem Grund auch als Public Correctness interpretiert), die die Freiheit der Rede beeinträchtige. Radisch macht auch einen Schuldigen aus: den "vollständig austauschbaren Bürobleichling" mit seinem "Zustimmungsgelaber". Oh, da liest jemand aber wahnsinnig gern das eigene Geschriebene.

Die von Radisch zitierten, aus dieser Masse der Wohlfühlmeinungen herausstechenden angeblichen Tabubrüche von Leuten wie Thilo Sarrazin sind dabei gar keine solchen, sondern nur larmoyantes Genöle aus Furcht vor dem Verlust des eigenen Status. Damit sind sie kein Stück anders als diejenigen, deren Haltung der Artikel kritisiert.

Alles in allem erinnert (nicht nur) mich das Geschreibsel an Harald Martensteins Kolumne. Dort hält sich ein alternder, spätgebärender Journalist für unglaublich originell und anti-mainstream, weil er sich die guten alten Zeiten zurückwünscht und merkt, dass er damit bisweilen aneckt. Gähn! Wenn das unter dem Stichwort "Journalismus" läuft, dann müssen sich die Zeitungen über ihre wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht wundern. Mir haben meine Eltern das Abo für die Zeit geschenkt. Aber mein Bedarf sinkt stetig, wirklich Kluges habe ich schon länger nicht mehr gelesen.

Damit reiht sich die Wochenzeitung eben genau in die Masse ein, die Radisch so übertrieben wortgewandt kritisiert. Artikel wie ihrer sind geistiger Grießbrei, fade und uninspiriert und weit davon entfernt, so etwas wie eine Diskussionskultur wieder zu beleben. Im Gegenteil, da wird bloß noch den vage "gefühlsmäßig" wahrgenommenen Gesellschaftsströmungen nachgeplappert, um die Verkaufszahlen zu steigern.

Außerdem ist es leicht, dem "Bürobleichling" angepasste "Angestelltenidiotie" vorzuwerfen, wenn die eigene Zielgruppe sich ein paar Etagen höher bewegt. Da werden sich die Leser auf jeden Fall wohlfühlen. Das ist etwas, das mir schon lange an der Zeit stinkt - dieses arrogante Besserverdienergehabe, mit dem das Blatt sich meilenweit über die profanen Probleme des Mobs erhebt. Die sind ihr eine Nummer zu nah am Boden. Zu den größten Sorgen der akademisch gebildeten Zeit-Leserschaft gehört offensichtlich, was sie sich als nächstes aus dem Manufactum-Katalog aussuchen soll.

Voll daneben, liebe Zeit. Dauert nicht mehr sehr lange, dann sind wir geschiedene Leute. Schon allein, weil Du Dir nicht zu schade dazu bist, Dich rechts rüberzulehnen. Deutlich zu weit für meinen Geschmack.

Das wird man ja noch mal sagen dürfen!

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Freitag, 28. August 2015
Nicht ohne Grund.
Der Herr Seibert in seiner Eigenschaft als Regierungssprecher twittert die Reaktion nicht meiner Bundeskanzlerin auf den grausamen Tod der Flüchtlinge im Schlepper-LKW:

"Kanzlerin Merkel: Schlepper haben sich nicht um diese Leben gekümmert. Die Menschen wollten Sicherheit und Schutz."

Man führe sich das noch mal langsam und genussvoll zu Gemüte: Die Politik dieser Regierung führt dazu, dass Menschen gezwungen sind, sich Schleppern anzuvertrauen, weil es keinen legalen Weg gibt, hierher zu kommen. Und dann wagt es diese Person tatsächlich, von Sicherheit und Schutz zu sprechen. Ihre Politik der Abriegelung, die gehässige Drittstaatenregelung - das hat ja natürlich alles nichts zu tun mit den Menschen in diesem Lastwagen.

Ich habe erst heute von diesem fürchterlichen Vorfall in den Nachrichten gehört. Alles, alles in mir krampfte sich zusammen, als ich mir vorstellte, was diese Menschen erlebt haben mussten, bevor sie alle den Tod fanden. Blankes Entsetzen. Dieser LKW und die Boote, Kähne, Kutter auf dem Meer, die Leichen an den Stränden, das ist mehr, als ein menschliches Herz an Leid erfassen kann. Dann in den letzten Wochen die Menschenschlangen vor den Behörden in sengender Hitze, der Mangel an allem, was nötig ist. Und schließlich der hasserfüllte Mob, Parolen brüllend, Steine werfend, das Obdach anderer anzündend.

Man könnte sich angesichts all dessen fragen, was hier eigentlich los ist. Dabei ist das alles nichts weiter als die logische Konsequenz der Politik der letzten Jahrzehnte. Was in Heidenau passiert, ist die Folge der menschenverachtenden Unterteilung in echte und falsche Flüchtlinge, die die Regierung selbst vorgenommen hat. Das ist die Folge davon, Menschen zu selektieren nach Nützlichkeit in jene, die man brauchen kann, und jene, die besser bleiben sollen, wo sie sind. Die Kriterien für die Einteilung unterliegen schierer Willkür.

Die Geschehnisse sind auch direkte Folge davon, dass Herr de Maizière sein Gesicht selbst in Zeiten wie diesen in die Kamera hält, um von der Verschärfung des Asylrechts und von angeblichem Asylmissbrauch zu sprechen. Er baut "den" Westbalkan-Flüchtling als neues Feindbild auf, der dem braven deutschen Bürger die sauer verdiente Kohle aus den Taschen zieht. Ich würde ja behaupten, das sei dumm von de Maizière, aber das trifft nicht zu. Das lasse ich mal so stehen.

Ich empfinde eine unglaubliche Wut auf diesen Scheißverein von einer Regierung. Wir haben eine Kanzlerin, die ewig nur Schweigen oder dumpfe Floskeln angesichts all des Elends übrig hat, anstatt sich deutlich für Menschenrechte und Menschenwürde zu positionieren. Ich gehe davon aus, sie will nicht. Sie ist aalglatt, weil sie ihre eigenen Machtinteressen nicht gefährden will. Nichts weiter.

Liebe regierende Politiker, Ihr habt die Menschen in dem ungarischen Lastwagen mit auf dem Gewissen. Ich wünschte, dass Ihr bei jedem Blick in den Spiegel ein Echo dieses absolut unmenschlichen Grauens erlebt. Ich wünsche Euch, dass in jedem Moment der Stille die Schreie des Hasses in Euren Ohren gellen, die ihr so geflissentlich ignoriert. Ich wünsche Euch von tiefstem Herzen, dass Ihr an Eurer eigenen Kälte erfriert. Ihr widert mich an.

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Sonntag, 23. August 2015
Gehört halt dazu, oder?
Als hinter unserem Grundstück ein neues Wohnbaugebiet erschlossen wurde, waren wir wenig begeistert. Bis dahin hatten wir das Privileg eines freien Blicks über die Felder genossen. Aber natürlich kann man anderen kaum das Recht absprechen, dasselbe zu wollen wie man selbst - nämlich ruhiges Wohnen mit viel Grün drumherum. Wir erhielten Einblick in die Baupläne. Entstehen sollte hier ein klassisches Wohngebiet mit Wendeplatz, freistehenden Einfamilienhäusern, Gärten drumherum, Verkehrsberuhigung. Little suburbia.

Tja, in den sauren Apfel mussten wir beißen, und immerhin sind es ja auch nur ein paar Häuser, von denen wir von hier sowieso kaum etwas sehen. Der Platz direkt an unserer Grundstücksgrenze unter den hohen Eichen wurde nicht bebaut. Schön einerseits, andererseits entstand dort ein Spielplatz.

Als wir das in den Plänen gesehen hatten, kam uns Unbehagen auf. Mir glaube ich noch mehr als dem Gatten. Denn Kindergeschrei geht mir bisweilen gewaltig auf die Nerven. Per Gesetz ist Kinderlärm hinzunehmen und kein Anlass zur Klage (weder gerichtlich noch anderweitig). Aber ehrlich, mir kocht manches mal gewaltig das Blut, wenn es mal wieder so weit ist.

Es ist kaum möglich, das zu sagen, ohne als Kinderhasser dazustehen. Schnell wird sich auf den Umstand berufen, dass Kinderlachen, Geschrei und Toben natürliche Äußerungen von Kindern seien. Kritik daran gilt als kinderfeindlich, engstirnig, bieder und unlebendig.

Ich sehe es in der Tat so: Lachen, Toben, Schreien sind Lebensäußerungen von Kindern, die zum Leben dazugehören. Wir hatten definitiv viel zu lange ein Erziehungsumfeld, in dem von Kindern erwartet wurde, brav und angepasst zu sein, nicht aufzufallen, keine Mühe zu verursachen und auch sonst nicht spürbar zu sein. Das ist generell keine gute Idee, weder für kleine Menschen noch für erwachsene.

Dennoch wirkt es auf mich (auch wenn ich mich natürlich in meinem subjektiven Empfinden durchaus täuschen kann), als sei die inzwischen offiziell bundesweit gültige Feststellung, Kinderlärm sei zu tolerieren, für viele Eltern ein Freifahrtschein, gar nicht mehr einzugreifen, wenn ihre Kinder über die Stränge schlagen. "Sind ja Kinder, lass sie doch!" Manchmal kommt der Hinweis dazu, man sei ja auch mal klein gewesen, und überhaupt seien diese Kinder ja diejenigen, die die bereits jetzt so verbitterten Kritiker schließlich im Alter versorgen würden.

Aber nein! Ich hätte keine Lust, mich im Alter versorgen zu lassen von Menschen, die sich bereits im Grundschulalter grenzenlos egoistisch verhalten, weil ihnen niemand Einhalt gebietet (und bezweifle auch, dass auf diese Weise aufgewachsene Menschen sich später freiwillig in sozialen Berufen engagieren). Mir fällt es enorm schwer zu unterscheiden, ob das Geschrei, das in der "verrückten halben Stunde" (die in Wahrheit meistens erheblich länger dauert) die komplette Nachbarschaft beschallt, eventuell Not signalisiert, sich ein Kind wehgetan hat, ob sich gestritten wird oder alles nur einem Aufschaukeln geschuldet ist. Vielleicht braucht man ein Mutter-Gen, um das zu erkennen.

Ich finde es nicht witzig, um fünf Uhr nach hause zu kommen und bei 30 Grad Außentemperatur meine Fenster schließen zu müssen, weil ich mich drinnen auf dem Sofa für eine halbe Stunde ausruhen will, das aber bei dem hochfrequenten Dauergeschrei unmöglich ist.

Ich rede gar nicht von Kinderlachen. Kaum jemand kann etwas gegen Lachen als Lebensäußerung haben, und das zu unterstellen ist boshaft. Ich rede nicht davon, wenn sich die Kids im Spiel gegenseitig zurufen. Ich rede nicht von Geschrei, wenn sich mal jemand ein Knie aufschlägt. Ich rede nicht einmal von ausdauernden Streitereien. Ich rede nicht vom Weinen der Säuglinge und Kleinkinder. Das gehört in der Tat zum Leben dazu.

Mir scheint, es kommt nur kaum noch jemand auf die Idee, Kinder zu begrenzen in ihren Äußerungen. Und so kommen die Kinder nicht auf die Idee, dass es außer ihnen auch noch andere Menschen auf der Welt gibt. Dass Ruhe für andere auch wichtig sein kann. Es gibt hier in der Nachbarschaft beispielsweise Kinder, die ausgesprochen ausdauernd nach Mama, Papa, Oma, Opa oder wem auch immer rufen mit einer äußerst penetranten Wiederholfrequenz, die sofort startet, sobald nicht innerhalb von dreißig Sekunden jemand antwortet. Oder die Fußballkids, die sich gegenseitig äußerst kräftig in Rage brüllen (ganz, wie sie es von Bierflaschen-Spielfeldrand-Papa gelernt haben). Es gibt Kinder, die über lange Zeiträume unglaublich laut zu mehreren schreien (schreien, nicht rufen oder lachen), und alles, was die Eltern dazu von sich geben ist ein gekünsteltes Lachen. "Haha, ist sie nicht wieder witzig, die kleine Annemarie?" Oder sie fallen gleich selbst mit ein, das hatten wir auch schon.

Es gibt Grenzen. Manchmal geht mir das alles ziemlich am Arsch vorbei, das sind die einigermaßen guten Tage. Oft gibt es aber auch Tage, an denen es unerträglich ist. Am unerträglichsten ist mir aber die ignorante Annahme der Eltern, niemand sonst außer ihren Kindern samt ihrer "natürlichen Lebensäußerungen" sei von Belang. Es stimmt einfach nicht, dass Elternschaft Menschen per se zu sozialeren Wesen macht, im Gegenteil. Ich habe es manches Mal schon lebendig und in Farbe erlebt, dass sie den Blick für alles und alle anderen um sich herum verloren haben. Das ist ein echtes Ärgernis.

Paradoxerweise beobachte ich bei Eltern häufig eine zweigeteilte Haltung. Auf der einen Seite möchten sie gern, dass die Gesellschaft Anteil an der Erziehung nimmt. Sich verantwortlich fühlt, sich zuvorkommend, tolerant und "kinderfreundlich" verhält und damit eben das Gebaren ihrer Kinder ein Stück weit aushält, weil es ja schließlich auch um das "Wohl aller" geht. Ich denke da gern an diese mahnenden Aufkleber an den Pfeilern von Fußgängerampeln, auf denen darum gebeten wird, nicht bei Rot über die Straße zu gehen, da anwesende Kinder ja eventuell durch Beobachtung und Nachahmung lernen könnten.

Auf der anderen Seite verbitten sich Eltern aber häufig jegliche Einmischung in ihre Erziehung, vor allem, wenn es um Kritik geht. Ich hätte einiges dazu zu sagen, dass meine Nachbarin für ihre kleine Tochter kaum ein liebevolles Wort übrig hat und sie permanent herunterputzt, aber ich bin mir darüber bewusst, dass das nicht meine Sache ist. Andererseits hätten gerade solche Kinder es nötig, dass man wirklich für sie eintritt. Aber wehe, man wagt es. Kritik an Kinderverhalten ist immer Kritik an elterlicher Erziehung, und da ist kein Spielraum mehr.

Kein Wunder also, dass man als Kinderfeindin gilt, wenn man es wagt, Kinderlärm nervig, anstrengend und lästig zu finden. Aber das hat nichts mit Kinderfeindlichkeit zu tun. Es geht nur darum, dass man der Auffassung ist, Eltern hätten auf das Lärmverhalten ihrer Kinder Einfluss und sollten ihn auch geltend machen. Längst nicht alles ist hier "natürlich" und normal. Aber es kommt einem großen Affront gleich, von Eltern Rücksichtnahme zu verlangen.

Dabei ist gegenseitige Rücksichtnahme durchaus auch bei Eltern gefragt. Man kann sich wünschen, nicht unbedingt unter der Woche mit basslastiger Musik dauerbeschallt zu werden. Schön wäre auch, wenn Motorradfahrer darauf verzichten könnten, ihre Gashähne im Vorbeifahren aggressiv aufzureißen. Und Hundehalter darauf, ihre Fiffis zum Kacken in den Sandkasten zu schicken. Zur Rücksichtnahme gehört, dass ich nicht morgens unter dem Schlafzimmerfenster meiner Nachbarin herumlärme.

Ausgerechnet penetrantes Kindergeschrei soll unabänderlich und natürlich sein und ohne jegliche Möglichkeit der Einflussnahme? Ich glaube kaum. Mir kommt es eher so vor, als sei es eben unbeliebt, gegen Eltern und ihre Erziehungsmethoden überhaupt noch etwas zu sagen. Schließlich stehen wir alle unter dem medial propagierten Eindruck des drohenden demografischen Wandels und haben gefälligst dankbar zu sein, dass die Kinderkrieger überhaupt noch Kinder kriegen. Was aus den Kindern für Menschen werden, ist da wohl eher zweitrangig.

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Mittwoch, 5. August 2015
Woher kommt das nur? Ein Versuch.
Vor kurzer Zeit habe ich mich bei Twitter angemeldet. Ich, als chronische Social-Media-Verweigerin! Das muss man sich mal vorstellen. Die Neugier war schließlich stärker. Da traf ich in den letzten Tagen auf alte Bekannte aus Klein-Bloggersdorf: Herrn Giardino und Frau Novemberregen. Und es entspann sich eine kleine Diskussion über die Ursachen von Rassismus.

Ist Rassismus und Fremdenhass ein gesellschaftliches, ein persönliches Problem, oder ist es eher ein soziales? Ich gehe mit Herrn Giardino konform, dass man die Problematik nicht nur auf die soziale Ebene herunterbrechen kann. Es sind nicht allein die sogenannten bildungsfernen Schichten, aus denen zur Zeit die Ressentiments gegen alles Fremde, Andere hochquillen wie Abwasser aus einem Gullideckel. Denn, wie Herr Giardino treffend sarkastisch bemerkte: "In Villenvierteln würde man Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen!"

Mich erinnerte das an ein Interview, das ich vor einer Weile mal gesehen hatte. Ich weiß nicht mehr, um welche Stadt es ging - ich glaube, es war Hamburg. Dort sollten in einem leerstehenden Bau nahe eines gutsituierten Wohnviertels Asylsuchende untergebracht werden, und plötzlich war es nicht mehr so weit her mit dem Wohlwollen der Anwohner.

Mich kotzen diese Ressentiments an, und vor allem das Mäntelchen der Wohlanständigkeit, unter dem sie versteckt werden. Die braune Soße, die hierzulande neuerdings hochkocht, hat nichts mit den Äußerungen besorgter Bürger zu tun. Allenthalben wird die Sorge um deutsche Kinder, deutsche Rentner, deutsche Steuerzahler und deutsche Arbeitsplätze vorgeschoben, um ein halbwegs anständig wirkendes Etikett zu haben für den Ekel und den Hass, den man gegen all die Menschen hegt, die einem selbst nicht ähnlich sind.

Dass man in den Medien extra noch sagen muss, dass "Parteien" wie "Der Dritte Weg" nicht sind, was sie zu sein scheinen... Ja, was scheinen sie denn zu sein? Ich finde, die braune Schmiere ist deutlich erkennbar für jeden fühlenden, denkenden Menschen.

Frau Novemberregen schrieb, wir sollten unsere Haltungen eben reflektieren, und ich stimme ihr zu. Aber das Reflektieren wird zunehmend schwierig. Ich bin der Ansicht, dass wieder hochkommt, was in diesem Land nie wirklich ganz weg war, und dass wir darüber hinaus das Gehorchen gewohnt sind (um mich da ein bisschen bei Hannah Ahrendt anzulehnen).

Zur Zeit wird uns vorgebetet, wir sollten gefälligst Angst haben, und wir gehorchen brav. Wer einen Horst Seehofer hat, braucht keine eigenen Brandstifter. Das Wort von der "Asylantenflut" ist nur die logische Konsequenz seines Bangemachens vor dem einfach mal fraglos in die Welt geworfenen "Asylmissbrauch". Den Beweis, dass es den tatsächlich gibt und wenn, in welchem Umfang, den ist der werte Herr bislang noch schuldig geblieben. Was er das betreibt, ist purer Populismus.

Ich glaube auch nicht nur eine Minute lang daran, dass die Politik die Seiteneffekte ihres Sprechens und Handelns nicht mit einkalkuliert. Pegida und Konsorten hat man keinesfalls nur hingenommen. Man ist sich der Tatsache sehr wohl bewusst, dass das Pöbelvolk aus der Mitte der Gesellschaft ausgezeichnet zum Stimmvieh taugt, wenn jemand auftaucht, der noch radikaler ist. Und dass das passiert, darauf kann man den Allerwertesten verwetten. Gewissermaßen hat Herr Seehofer das ja auch zugegeben, als er sagte: "Rechte Volksverführer verhindern sie nicht, indem sie ein Thema totschweigen oder indem sie die Sorgen und Ängste der Bevölkerung nicht aufnehmen." In Wahrheit lassen sich Leute mit Sorgen und Ängsten prima gebrauchen. Zum Beispiel dazu, die eigene Macht zu zementieren.

Mein Verdacht ist, dass die Menschen es mehrheitlich gern hätten, wie es in der guten alten Zeit war. In der guten alten Zeit war es so: Da war immer jemand, der einem sagte, was man tun sollte. Das war praktisch, denn es befreite vom Selberdenken, von der Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen und von Unbequemlichkeiten. In der guten alten Zeit war es auch so, dass man keine offenen Fragen über Gut und Böse hatte. Die Rollen waren klar verteilt, böse waren immer die anderen. In der guten alten Zeit war es auch so, dass Frauen und Männer noch wussten, was ihre ureigensten Aufgaben waren. Die waren festgeschrieben. Wie viel anstrengender ist jetzt dieses neue Ausloten, das Probieren und Scheitern. Nein, dann lieber die gute alte Zeit. In der guten alten Zeit lohnte sich die eigene Leistung noch. Das hätte man auch gern wieder, weil einem gegen den totalen Kahlfraß des Kapitalismus nichts besseres einfällt, als sich ein Wirtschaftswunder-Idyll zurückzuwünschen, mit deutscher Wertarbeit. In der guten alten Zeit konnte auch nicht jeder einfach so seine Meinung in die Welt hinausblasen. Da musste man schon jemanden kennen, der jemanden kennt.

Wir gehorchen. Problematisch daran ist, dass die Befehle, denen wir gehorchen, inzwischen nicht mehr gebrüllt, sondern geflüstert werden. Die Frage ist vielleicht nicht, ob der aufwallende Fremdenhass in sozialen, psychischen oder gesellschaftlichen Gründen wurzelt. Vielleicht ist es alles zusammen.

Wir sind mit dem Minderwertigkeitskomplex des stets zu kurz Gekommenen behaftet, fürchten um unseren relativen Wohlstand und um das, was uns unserer Meinung nach mehr zusteht als anderen. Mehr als anderen! Womit meinen wir Deutsche eigentlich mehr Menschenwürde verdient zu haben als alle anderen Menschen? Mehr Hilfe? Mehr Dach über dem Kopf? Mehr Essen im Bauch? Mehr Vergnügen, mehr sozialen Status?

Wir meinen, es uns verdient zu haben! Als Steuerzahler, als brave Bürger, als ehrlich Schuftende. Wir als Inbegriff des gehorsamen Arbeitstieres erwarten, irgendwann von einer höheren Macht dafür belohnt zu werden. Wir können es nicht ertragen, dass andere Menschen, die unserer Meinung nach nichts geleistet haben, in diesen Genuss scheinbar ganz von selber kommen. Ohne dass wir es wirklich gemerkt haben, hat uns der Kapitalismus mit Haut und Haaren gefressen.

Das Mitgefühl bleibt auf der Strecke. Der Mensch in dieser Mühle kommt gar nicht mehr auf die Idee, dass freimütig gegebene Hilfe und aufrichtiger Respekt für andere das Leben tatsächlich besser machen. Er ist in einer narzisstischen Kränkung gefangen, die den Blick auf andere verstellt. Er ist kurz vorm Verhungern, obwohl vor ihm ein gefüllter Teller steht und er eigentlich nicht einmal ahnt, was wirklicher Hunger ist.

Die aktuelle Politik führt die Bürger, vor allem die besorgten, da gewaltig aufs Glatteis. Sie greift diese Angst vorm Verhungern elegant auf, indem sie verspricht: "Wir werden dafür sorgen, dass Dir keiner was vom Teller nimmt!" Sie sagt nicht: "Schau, Du bist in Wahrheit schon satt! Dein Hungergefühl kommt von woanders."

Die aktuelle Politik und mit ihr die Vertreter beinahe aller Parteien schreien. "Terrorismus!" "Wirtschaftlicher Abschwung!" Schreien von Sozialschmarotzern, Asylbetrügern und von Pleitegriechen und sie bringen damit eine Saite zum Klingen. Die Medien schreien fleißig mit. Wer an das Märchen der Machbarkeit, des ewigen Wachstums und der totalen Sicherheit glaubt, muss sich an der Realität wundscheuern.

Das falsche Trostpflaster sagt, schuld seien die Anderen. Der Feind wird außen gesucht. So hat es sich bewährt. Das können wir so gut, Schuldige suchen. Man hat es uns nicht gründlich genug ausgetrieben, wir haben es nicht gründlich genug verlernt. Hatte nicht Opa auch immer gesagt, damals hätte es keine Arbeitslosen gegeben? Damals in der guten alten Zeit, als wir noch nicht selbst denken mussten. Nur zur rechten Zeit den rechten Arm hochreißen. Lagerfeuer gab's dazu und das Gefühl, dazuzugehören. Zu den Starken, die alles erreichen.

Dass die besorgten Bürger letztendlich nicht mehr sind als auf dem Teppich sitzende, trotzig heulende Babys, ändert nichts an ihrem Hass und ihrer Angst. Mit dieser Energie kann man was anfangen. Häuser anzünden. Leuten mit den falschen Gesichtern aufs Maul geben. Nachtreten, Nagelbomben bauen, es den eigenen Kindern ins Ohr flüstern.

Zu glauben, das Problem sei eines mangelnder Bildung und materieller Sicherheit, greift sicher zu kurz. Ähnlich, wie diejenigen Menschen Fremde am meisten zu hassen und zu fürchten scheinen, die am wenigsten Kontakt zu ihnen haben, fürchten wohl auch diejenigen den Verlust ihrer Güter und Privilegien am meisten, die das meiste besitzen. Oft, aber nicht immer habe ich die Beobachtung gemacht, dass gerade diejenigen am freimütigsten teilen, die selber wenig haben.

Reflektieren sollten wir, ja. Und diskutieren, auf keinen Fall damit aufhören. Wir können noch so gebildet sein, das schützt uns nicht vor der alten, festsitzenden Angst, ungerecht behandelt zu werden. Wir sollten unsere Augen und unser Herz benutzen. Wer sich fürchtet, kann nicht denken, und wer sich fürchtet, kann nicht mit anderen fühlen.

Zur weiteren Lektüre kann ich Arno Gruen empfehlen. Der befasst sich äußerst plausibel und aufschlussreich mit der psychischen Seite dieser Dinge.

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Samstag, 18. Juli 2015
Spießerklage
Das Flurstück, an dem ich zu Beginn meiner Ausbildung noch entlangfuhr, durch eine kleine Allee, vorbei an einer Baumschule und einer Schar freilaufender Hühner, ist inzwischen ein neues Gewerbegebiet. Die schießen hier zur Zeit wie Pilze aus dem Boden, ähnlich wie die Wohnbaugebiete, die die Landschaft in Vorstädte mit Einfamilienvillen für Gutsituierte verwandeln.

Im neuen Gewerbegebiet blüht auf dem kargen, unbebauten Boden zur Zeit noch die Kamille, deren Duft schon beinahe betäubend intensiv ist. Die Straße ist bereits asphaltiert und verläuft mit einem breiten Knick mitten durch die Brache. Noch kein Verkehr, keine Bautätigkeit. Dafür aber in unmittelbarer Nähe ein McDrive.

Dies wird die Klage einer Spießerin. Ähnlich wie ich mich über das First World Problem aufregen kann, dass Hundebesitzer ihre Viecher zum Kacken vor die Tür halten und dann nicht hinter ihnen aufräumen, rege ich mich auch über die Hinterlassenschaften der Fast Food Gastronomie auf.



Wenn jemand gedankenlos einfach seinen Dreck hinter sich fallen lässt, finde ich das schon schlimm genug. Als ich klein war, war es mal Mode, uns in der Schule zu erzählen, dass man das nicht macht, schon allein der Umwelt wegen. Um ästhetisches Empfinden ging's damals gar nicht.

Diese Mode ist, so kommt es mir vor, längst Geschichte. Der Blick auf Randstreifen und Böschungen, Rastplätze und Bänke im Grünen fördert Plastikrummel und leere Flaschen zutage. Auf langen Spaziergängen habe ich gebrauchte Slipeinlagen und geleerte Weinkartons entdeckt, ohne danach gesucht zu haben. Die Geschichten dazu male ich mir lieber nicht aus. Mir steigt der Ekel die Kehle hoch, und das Draußen, dass ich so sehr liebe, ist beschmutzt. Nicht alleine durch den Abfall, sondern vor allem durch die widerwärtige Gedankenlosigkeit der Menschen, die es verlernt haben, Respekt für ihre Umgebung aufzubringen.



Die Straße im neuen Gewerbegebiet wird für ein Hobby genutzt, das mir schon seit längerer Zeit gewaltig auf den Sack geht. Man besorgt sich Junkfraß vom Burgerbräter, parkt die Karre am Straßenrand, und wenn man aufgegessen hat oder auch nicht, pfeffert man mit Schwung das Übriggebliebene aus dem Fenster in die Landschaft. Je weiter man es verteilt kriegt, um so größer ist hinterher der nasse Fleck in der Hose.



Ich gebe freimütig zu, dass ich gern Ordnung hätte. Es fällt mir schwer, meine Abscheu über dieses Verhalten in Worte zu fassen. Billig fressen, und dann weg mit den Resten. Die sind anderer Leute Problem. Oh, man fühlt sich sogar cool dabei. Dagegen lassen sich keine Schilder mit zahmen Bitten aufstellen und auch keine größeren Abfalleimer. Das ist Arschloch-Ignoranz allererster Güteklasse.

Ich bräuchte wohl gar nicht erst in größere Städte zu kommen, da regt man sich vermutlich über Hundekacke an der Sohle und liegengebliebene Reste vom Sperrmüll ebenso wenig auf wie über den Meckesdreck. Aber ist eigentlich der Wunsch so vermessen, mal hundert Meter draußen zurücklegen zu können, ohne auf irgendeine widerliche Hinterlassenschaft zu stoßen?

Beim Geocaching gibt es die Tradition, ab und an mal einen CITO-Event zu veranstalten (CITO steht für "Cache in, trash out"). Da beseitigt man dann gemeinsam Müll an Orten, von denen man meint, dass sie es nötig haben. Mir kam der Gedanke, das auch mal hier zu tun und beispielsweise die Böschungen des Kanals von Unrat zu befreien. Ich tue das aber nicht.



Nicht deshalb, weil ich das Gefühl habe, das sei nicht meine Aufgabe. Sondern weil ich eine Art wütende Resignation spüre und genau weiß, dass dieselben Drecksäcke übermorgen wieder ihren Scheiß in die Landschaft werfen werden. Bald wird der nächste besoffene Frauenkegelclub seine Hugo-Flaschen hinter sich fallen lassen. Bald werden die nächsten Stammtischbrüder hinter Sitzbänken ins Gebüsch pissen und die nächsten Kids ihr Milchschnitteplastik neben den Mülleimer werfen.

Es gibt Momente, in denen ich den Menschen an sich wirklich verabscheuungswürdig finde. Nennt mich eine Spießerin. Ich komme damit klar.

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Sonntag, 28. Juni 2015
Die Schande des Herr Gall
Eigentlich hat zu dieser Äußerung hier...



... Oberblogger Sascha Lobo schon alles gesagt, was von Gewicht ist. Und was ich von der Vorratsdatenspeicherung halte, daran besteht auch kein Zweifel.

Trotzdem will ich mich öffentlich aufregen. Der besonders in der rechten Ecke beliebte Begriff "Kinderschänder" ist so emotional besetzt, dass ich nicht anders kann. Ihn mit der Vorratsdatenthematik zu kombinieren, ist reines Kalkül von Herrn Gall. Da hilft es auch nichts, wenn er versucht, im Nachhinein seine Aussage über die "vermeintlichen" Freiheitsrechte zu relativieren.

Man kann den "Kinderschänder" in jede Thematik einführen, die sich um Überwachung, Kontrolle und Strafen dreht, weil er ein perfekter emotionaler Aufhänger ist. Das Zerrbild des hemmungslosen Hasstäters, der im Gebüsch wartet, um sich einem Kind als Inbegriff unschuldigen Lebens zu vergreifen, eignet sich perfekt, um das Gehirn auch grundsätzlich kritischer Menschen zum Aussetzen zu bringen.

Die Gleichung lautet, dass wer die Vorratsdatenspeicherung nicht will, in Kauf nimmt, dass Menschen draußen herumlaufen, die kleine Kinder vergewaltigen. Es hinterfragt kaum jemand, ob da tatsächlich ein Zusammenhang besteht.

Ist Vorratsdatenspeicherung überhaupt dazu geeignet, Kindesmissbraucher zu überführen? Wo findet denn Kindesmissbrauch statt? In Kinderzimmern, vielleicht in Umkleideräumen, in Heimen - überall, wo Erwachsene Zugriff auf und Macht über Kinder haben. Während man sich in Sachen Terrorismus noch vorstellen kann, dass Absprachen gemacht werden und sich Komplizen untereinander vernetzen müssen, ist Kindesmissbrauch ein sprachloses, geheimes Verbrechen, über das man sich nicht austauscht. Missbraucher telefonieren mit ihren Ehefrauen, mit ihren Freunden, mit ihren Opfern. Daraus kann man ihnen keinen Strick drehen und anhand dessen kann man sie auch keiner Straftat überführen.

Einen Zusammenhang zu suggerieren ist fahrlässig, zum einen im Bezug auf die tatsächlichen Freiheitsrechte von uns Bürgern. Wir alle werden unter Generalverdacht gestellt, Kindesmissbraucher zu sein. Zum anderen ist es auch fahrlässig im Bezug auf das Verbrechen des Kindesmissbrauchs, denn Vorratsdatenspeicherung geht an den Umständen völlig vorbei und ändert nichts an der Realität. Die Überschreitung der kindlichen Grenzen wird nach wie vor akzeptiert, Übergriffe werden bagatellisiert, Opfern wird nicht geglaubt, die Tat verjährt... Ginge es darum, Kinder wirklich zu schützen, müsste und könnte man es anders angehen.

Deshalb verdient Herr Gall für seine Aussage eine besondere Auszeichnung für Polemik und Respektlosigkeit gegenüber den wirklichen Opfern. Er benutzt sie zum Bangemachen und missbraucht sie damit gleich noch einmal. Dass so jemanden Freiheitsrechte nicht wirklich interessieren, dürfte dann auch niemanden mehr wundern.

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Montag, 4. Mai 2015
Die Indolenz der Vielen
Manchmal "erinnere" ich mich mit einer gewissen Verklärung an die Protestkultur meiner Elterngeneration. Als man noch laut und deutlich kundtat, wenn man gegen etwas war. Den Nato-Doppelbeschluss oder den Bau neuer Atomkraftwerke oder Landebahnen. Man ist geneigt zu sagen, dass es diese Form der Protestkultur nicht mehr gibt. Obwohl ich an dieser Stelle auch zugeben muss: Meine Eltern haben niemals protestiert. Sie waren viel zu beschäftigt damit, sich mit Eigenheim und Kleinfamilie einzurichten. Ich selbst habe also in meinem Elternhaus auch keine Protestkultur gelernt. Man wäre in unserem Dorf auch reichlich schräg angeschaut worden, hätte man gegen irgendwas protestiert. Schräg angeschaut zu werden war so ziemlich das Schlimmste, das einem passieren konnte.

Den Mund machte man nicht auf. Auch dann nicht, wenn es durchaus Anlass gab. Die tieffliegenden Kampfflugzeuge beispielsweise, deren Lärm für mich zum Sommer gehörte wie das Geräusch von Rasenmähern und die Geranien im Kasten. Die Kampfflugzeuge gibt es heute noch, ich empfinde den Lärm inzwischen als unerträglich. Aber die, die früher protestierten, sind heute in den Sechzigern, und die Jungen (er-)kennen das Problem nicht mehr. Wenn es den Gatten und mich in dieser Sache zwischendurch mal wieder auf die Straße treibt, dann erleben wir als Reaktion unserer Mitbürger häufig nur noch Unverständnis. Warum regt uns das auf?

Ja, warum sich überhaupt aufregen? Warum auf die Straße gehen? Ich kann ja schließlich auch von meinem Laptop aus bequem auf dem Sofa eine Campact-Aktion zeichnen und habe dann meinen Teil zum Protest beigetragen. Wenn ich denn etwas finde, das mich hinreichend aufregt.



Es ist inzwischen schon ein paar Wochen her, da verschlug es uns zur Verleihung der Big Brother Awards nach Bielefeld, und zuvor gab es wieder einmal eine Demonstration unter dem Motto "Freiheit statt Angst". Die Überwachung durch Staaten und Unternehmen gehört für mich ganz klar zu den Dingen, über die ich mich aufregen kann. Und das nicht erst seit den jüngsten Skandalen in Sachen BND und NSA. Letztere vermitteln mir persönlich aber noch einmal das Gefühl besonderer Dringlichkeit, wenn es darum geht, die eigene Freiheit deutlich einzufordern, so lange das noch möglich ist. Und zwar nicht zuhause vor dem Rechner (auch wenn ich das Mittel als solches für durchaus legitim und wirksam und den Diskurs im Netz für wichtig halte), sondern auf der Straße, mit lauter Stimme und Plakaten aus Pappe.



Ist diese Form des Protests überholt? Ist Protestieren überhaupt überholt? Gibt es dazu noch Anlass, wo es uns allen doch eigentlich gut geht und man nichts zu befürchten hat, wenn man nichts zu verbergen hat? Ich kam mir jedenfalls im Bielefelder Demonstrationszug (der traurigerweise aus nur rund 70 Leuten bestand) vor wie ein Tier im Zoo, wie ein begaffter Exot.



An diesem Freitagnachmittag, der einigermaßen sonnig und trocken war, waren die Bielefelder mit Shopping beschäftigt und schüttelten in der Mehrzahl der Fälle ungläubig den Kopf, schauten verkrampft in eine andere Richtung oder erwogen gar einen Ortswechsel, weil der Demonstrationszug zum Zweck einer kurzen Kundgebung an der Sonnenterrasse des Cafés haltgemacht hatte und die schöne Entspannung dahin war.



Was wollen diese Leute?, stand den meisten unbeteiligten Zuschauern als Frage deutlich ins Gesicht geschrieben. Zumindest aber: Hey, stör mich nicht beim Shoppen! Zeitweilig etwas weniger unbeteiligt wirkten die Umstehenden nur, als ich das Objektiv meiner kleinen Kamera auf sie richtete und sie sich plötzlich beobachtet fühlten.



Vielleicht hat sich der Begriff der Freiheit gewandelt. Vielleicht besteht die erstrebenswerteste Form der Freiheit für die Mehrheit der Menschen darin, zu konsumieren und ansonsten in Ruhe gelassen zu werden. Etwas in mir mag vom Verhalten der Leute an diesem Bielefelder Freitag nicht auf die Gefühle der Mehrheit schließen, aber letztlich setzt sich doch die Pessimistin in mir durch. Dieses Phlegma, das in der Luft hängt wie süßes Parfum, diese Uninteressiertheit bleibt mir vollkommen unverständlich.



Ist das geboren aus der Annahme, die da oben™ machten ohnehin, was sie wollten, ganz gleich, ob man protestierte? Ist es Resignation, oder ist es reine Trägheit? Kein Bock auf Protest? Oder ist es Unwissen? Ich bin eh nicht bei Facebook, also warum die Aufregung? Oder liegt es daran, dass man gar nicht mehr aus seinem Convenience-Reservat herauswill? Daran, dass Weiterdenken zu viel Energie kostet? Sammeln Sie Payback-Punkte?

Im Falle des Volkszorns, der sich gegen die angebliche Überfremdung des Abendlandes richtet, scheint der Protest auf der Straße leichtzufallen. Klar, bestimmte Alltagserlebnisse sind natürlich auch viel greifbarer als das Überwachungsverhalten staatlicher und wirtschaftlicher Institutionen. Es ist einfach, sich über die Präsenz von Menschen aufzuregen, die anders aussehen und sich anders verhalten als man selbst. Überwachung hingegen ist abstraktes Neuland und ein bisschen wie radioaktive Strahlung. Tut erstmal nicht weh.



Manchmal habe ich den Eindruck, es dauert ohnehin sehr lange, bis den meisten Menschen etwas weh tut. Mich persönlich schmerzt am meisten der blauäugige Glaube, den Durchschnittsbürger schütze seine eigene Rechtschaffenheit vor der Willkür des wachenden Auges. Dabei ist das wachende Auge an sich schon Willkür, denn es treibt uns dazu, nur noch konforme Gedanken äußern und schließlich auch denken zu können. Mitnichten sind die Gedanken frei. Du wurdest verarscht!

Lässt sich gegen diese Indolenz anschreiben, anbrüllen, anweinen? Ich weiß es nicht. Wir sind ja bereits mitten drin in 1984, nur, dass das mit viel weniger offensichtlicher Gewalt geschieht, als Orwell dachte. Es braucht keine Ratten mehr, die uns so viel Angst einjagen, dass wir Mitmenschen und Ideale verraten. Wir haben sie erst gar nicht.

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