Sturmflut
Sonntag, 14. November 2010
"Daraus wurde nichts..."
Seit kurzem bin ich mit meiner Mutter wieder in Kontakt getreten - brieflich. Das war gar nicht so einfach, signalisierte mir mein Inneres doch selbst beim Schreiben noch: "Pass bloß auf, sie wird dich ja doch wieder nur enttäuschen!"

Ich habe so viel an eigener Lebensgeschichte angeschaut inzwischen, dass ich an die Grenzen meiner eigenen Erinnerungsfähigkeit gestoßen bin. Trotzdem blieben mir so viele meiner Gefühle, an denen ich mich jetzt massiv abarbeite, unverständlich. Ich habe viel gelesen und bin sozusagen Expertin geworden für Seelenmacken und ihre Entstehung, aber mir fehlte doch der Draht zum eigenen Erleben.

So war es dann ein ganz eigennütziger Akt, ein paar Zeilen Brief zu schreiben und meine Mutter zu fragen: "An was erinnerst Du Dich aus der Zeit meiner Geburt und frühen Kindheit?" Meine Mutter ist nun einmal für diese Zeit eine fundierte Informationsquelle, vor allem auch, was ihre eigenen Gefühle betrifft, die ich als Baby schon spürte. Und sie lebt noch. Der Schluss lag nah, sie einfach nach ihren Erlebnissen zu fragen, auch wenn mich die Umsetzung Überwindung kostete.

Zu meiner Überraschung hatte ich den richtigen Ton getroffen. Sie schrieb mir mehrere Seiten lang - so wie sie nun einmal ist, sachbezogen, eher kühl und distanziert - aber sie schrieb. Und an mancher Stelle schimmerte doch so etwas wie Gefühl durch.

Ich habe einiges erfahren. Dass sie fest mit einem Jungen rechneten beispielsweise und immer von "er" sprachen, und das "Erstaunen" doch groß war, als das zweite Kind doch ein Mädchen war. Dass die Umstände meiner ersten Lebenswochen doch eher schwierig waren. Vieles mehr. Mit diesen Informationen lieferte mir meine Mutter die Fakten zu meinen diffusen Gefühlen, und jetzt endlich kommt einiges zur Deckung, wird schlüssig und verstehbar für mich.

Fragen taten sich auf aus ihrer ersten Antwort, und ich fragte. Gestern bekam ich ihren zweiten Brief. Voll mit Erinnerungen über ihre eigene Kindheit und bedeutsame Erlebnisse. Ich hatte sie darum gebeten. Ich glaube, ohne diesen Hintergrund verstehe ich mich selbst nicht richtig.

"Daraus wurde nichts...", das ist ein dominanter Satz auf diesen Seiten. Zum ersten Mal habe ich ein tiefes Mitleid mit dem Kind und der jungen Frau gefühlt, die meine Mutter damals war.

"Daraus wurde nichts...", das gilt für ein versäumtes halbes Schuljahr, weil sie schwer krank wurde, mit 11 oder 12 Jahren. Verpasster Stoff, Mühe und Lücken beim Nachholen. "Daraus wurde nichts...", das gilt für die Weihnachts-, Geburtstags- und Osterfeste dieses Jahres, die sie im Krankenhaus verbrachte, von der Familie getrennt durch eine Glasscheibe.

"Daraus wurde nichts...", das gilt für den Besuch des Gymnasiums. Sie hatte eine Empfehlung, war fleißig und intelligent, aber sie war "nur" ein Mädchen, für das es sich nicht lohnte, das Fahrgeld aufzubringen (kein Wunder, dass sie sich einen Jungen wünschte).

"Daraus wurde nichts...", das gilt für ihre Wunschausbildung. Sie wollte nicht ins Büro und landete dann doch in der Buchhaltung eines Unternehmens, obwohl sie etwas anderes gelernt hatte.

"Daraus wurde nichts...", das gilt für den Plan, mit einer Freundin gemeinsam in eine größere Stadt zu ziehen. Vorher starb ihr Vater (sie war 17), und sie hatte darauf der Mutter versprochen, sie "nicht im Stich zu lassen". Das fesselte sie (auch moralisch) an das 3000-Seelen-Kaff, in dem sie ihr Leben lang blieb.

"Daraus wurde nichts...", das gilt für ihre Beziehung zu einem Katholiken. Die war nicht erwünscht, des Glaubens wegen. Meine Mutter war evangelisch. Schwer auszudenken, dass solche "Umstände" noch in den 60er-Jahren als Hindernis betrachtet wurden.

Enttäuschungen scheinen das Leben meiner Mutter in ihren jungen Jahren sehr geprägt zu haben. Niemand fragte hier nach ihren Gefühlen und Wünschen. Sie schildert mir auch die Gefühle nicht, die sie nach dem Tod ihres Vaters hatte, sie schreibt nur "ich war traurig". So, als sei es auch heute noch nicht erlaubt, dass das an die Oberfläche dringt. Genau so wie ich hat sie gelernt, dass Gefühle nicht erlaubt sind - sie hat es durch die Generation weitergereicht. Ich verstehe heute, wieso. Das macht es einfacher für mich.

Ich bin gespannt auf ihre weiteren Briefe und was noch alles dabei herauskommt. Sollte sich - sozusagen als Nebenwirkung - unser Verhältnis zukünftig beiderseits entspannter und gelassener gestalten, dann ist mir das auch recht.

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