Sturmflut
Montag, 8. November 2010
Die Ecke
Vor Längerem waren die Zeiten noch so, dass in der Schule in der Ecke stehen musste, wer störte, unangenehm auffiel oder anderweitig aus der Reihe tanzte. Dieser Stehposten war zumeist mit Verachtung oder Hohn auf Seiten der Nichteckensteher verbunden, mit tiefer Scham und Demütigung auf Seiten des Bestraften. Dieser Brauch ist innerhalb von Schulmauern überholt, auch wenn es dort inzwischen andere Sanktionen gibt.

Aber gesellschaftlich gesehen existiert immer noch so etwas wie diese Ecke, und sie wird der Gelegenheit angepasst.

Übermorgen jährt sich der Todestag von Robert Enke. Was hat das mit Ecken zu tun, kann man sich jetzt fragen. So eine Ecke existiert auch für das Phänomen Depression. Depressive werden in diese Ecke gestellt, und sie ernten Verachtung, manchmal unverhüllt, oftmals aber verpackt als Bedauern, Schockiertheit, Mitleid, Betroffenheit. Dennoch bleibt es Verachtung. Verachtung ist spürbar. Es ist die Verachtung gegenüber dem Andersartigen, dem Unbegreiflichen, die Verachtung gegenüber Menschen, deren Erleben man sich nicht erklären kann und will. Es ist dies auch die Weigerung, sich mit Menschen tatsächlich auseinanderzusetzen und die Frage "Wie geht es Dir?" wirklich ernst zu meinen und mit einer Antwort umgehen zu wollen.

Depressive und die Depression passen nicht. Schließlich ist jeder seines Glückes Schmied. Wenn man nur will, dann kann man... oder? Wir hätten es gern so, aber es stimmt nicht. Und daran erinnern Depressive. Sprüche wie "Mein Gott, der hat doch alles!" oder "Jetzt allmählich sollte er dies/das/jenes aber mal verkraftet haben!" zeugen davon, wie wenig man im Allgemeinen dazu bereit ist, sich mit den Menschen bschäftigen, die das Etikett "depressiv" tragen. Generell setzt man sich mit anderen eher ungern auseinander, wenn sie aufhören, amüsant und glänzend, stark und erfolgreich zu sein.

Dieser Zustand wird gern bekämpft, durch Wegsehen, durch schnelles Therapieren mit allerhand Psychopharmaka, damit der Zustand des Funktionierens wieder hergestellt wird. Wenn es gar nicht anders geht, wenn man keine plausible, leicht verdauliche, in zwei Sätzen zusammenfassbare Erklärung für den merkwürdigen Seelenzustand des Gegenüber finden kann, dann kommt schon auch gern mal: "Der hat einen Knacks!", "Der läuft nicht ganz rund!" oder "Die bedauernswerte Arme! Der ist nicht zu helfen!". In die Tiefe will keiner schauen. Zu bedrohlich, zu unbequem.

Ich las heute an anderer Stelle im Blogger-Universum aus der Feder von gorillaschnitzel (dem ich zustimme):

Robert Enke. Den vergesse ich nicht. Wirklich. Tragisch nennt man das heute, aber verstanden hat es keiner. Ihn nicht, alles nicht.

Und darauf ein weiterer Kommentator:

"Nun ja, ich verstehe es schon. (...) Oftmals ist das Leben anderer aus Sicht des Depressiven ebenfalls wertlos."

Gewagte Behauptung. Woher weiß der das? Ist er Psychologe? Oder selber depressiv? Oder schließt er das - wie leider so viele - aus dem Umstand, das es so etwas wie depressionsbedingte Schienensuizide überhaupt gibt? Eben nichts verstanden. Gar nichts.

Ich will ihm keine böswilligen Unterstellungen machen, wirklich nicht. Aber das ist auf gewisse Weise typisch. Außenstehende verstehen nicht die tiefe Verzweiflung, die Bodenlosigkeit dieser Krankheit, das Gefühl von Nichtswürdigkeit. Deshalb leiten sie aus den Verhaltensweisen Depressiver für sie verständlichere Erklärungen ab. Man kann noch eher damit umgehen, dass Menschen offensichtlich einfach egoistisch und rücksichtslos sind und andere Menschenleben für wertlos halten, als auch nur ansatzweise die Gefühlswelt eines Depressiven zumindest als gegeben annehmen zu können.

"Wenn er auch nur mal einen Moment darüber nachgedacht hätte, was seine Tat für Lokführer und Angehörige bedeuten würde und welches Leiden er verursacht, dann hätte er..." Das ist der Tenor, der in diesem Zusammenhang unter aller Betroffenheit und all dem blinden "Die Welt muss menschlicher werden"-Aktionismus durchschimmert.

Nur - Depressive tun oft nichts so intensiv wie das. Nachdenken über andere. Über die Erwartungen, die an sie gerichtet werden, über die Art, wie sie funktionieren sollten und darüber, wie wertlos es sie macht, dass sie genau das nicht können. Das "eigentlich sollte ich" hat einen sehr hohen Stellenwert im Leben Depressiver, und das Scheitern an diesem hohen Anspruch reißt immer und immer wieder den Boden fort. Die Überzeugung von der eigenen Wertlosigkeit gräbt sich so tief ein, dass alles andere nicht mehr von Bedeutung ist. Das macht so müde, dass man manchmal vor Züge treten möchte. Das ist ein Akt der Aggression sich selbst gegenüber, nicht gegenüber dem anderen. Es ist das Rückgängigmachen der eigenen Existenz, um das Gefühl des Überflüssigseins, der Nichtswürdigkeit und des Falsch-Seins nicht mehr spüren zu müssen.

Ich bin es so Leid, ich finde es so abgrundtief traurig, dass immer mehr vergessen wird, dass Menschen - egal, ob depressiv oder nicht - vor allem das Gefühl brauchen, angenommen zu sein, da sein zu dürfen, respektiert zu werden, ohne dafür leisten und sich zutiefst verbiegen zu müssen. Das läuft allerdings inzwischen den Maßstäben, nach denen wir leben, so sehr zuwider, dass es nicht weiter verwunderlich ist, dass so viele Menschen das Leben aufgeben.

Permalink



... früher