Sturmflut
Montag, 16. Mai 2011
Ich vermisse S.
Wir haben ungefähr sechs Jahre gemeinsam studiert. Ich erinnere mich noch gut, wie wir uns kennenlernten - wir saßen nebeneinander im Gebäude der Sozialwissenschaften auf einem Heizkörper, ein bisschen orientierungslos vor unserer ersten Veranstaltung. Sagten uns unsere Namen. Ich fand sie von Beginn an nett.

S. ist eine Person, die sofort Herzlichkeit aus allen Poren verbreitet. Sie ist fleißig, freundlich und aufmerksam. Wenn ich sie heute anrufe, dann klingt mir als erstes ihr glockenhelles Lachen in den Ohren und ein warmes "Hallo, meine liebe Sturmfrau!". Sie fragt, wie es mir geht, was ich mache und gemacht habe, sie ist ganz bei mir. Sie ist immer ganz bei anderen. Sie war auch in meinen finsteren Zeiten für mich da, fing mich auf, wenn ich wieder mal Angst hatte, alles nicht zu schaffen und davon überzeugt war, die totale Null zu sein. "Pass auf," sagte S., "du brauchst ja nur noch dies und das, und dann setzt du dich hin und schreibst es einfach. Du packst das! Du bist doch so gut!" Sie war krisenfest und verlässlich, immer lieb und immer präsent. Auch für alle anderen natürlich. Wenn es hieß, am Wochenende unentgeltlich im elterlichen Betrieb zu kellnern. Oder verzweifelten Frauen, die sie auf der Straße traf, neuen Mut zu geben. Oder sich zwischen Hauptgang und Nachtisch in der Mensa telefonseelsorgerisch um ihre kleine Schwester zu kümmern.

Irgendwann machte sie mit Bravour ihren Abschluss und plante ihren Fortgang. Sie landete in A., dann in T., wieder in A.. Manchmal, so erfuhr ich um drei Ecken von einer gemeinsamen Freundin, hundselend und einsam. Aber sie sagte nie ein Wort. Fing etwas an mit einem verheirateten Mann, der von seiner Frau mit dem besten Freund betrogen wurde und zwei Kinder hatte. Litt darunter, dass er nicht zu ihr stand und sich schließlich abwandte mit der Begründung, mit seiner Frau zur Eheberatung zu wollen. Litt darunter, dass sie verliebt war in den Partner einer Freundin, der zwar mit ihr auf Hotelzimmern Sekt trank, aber sie sonst am langen Arm hielt. Ich erfuhr erst Monate danach, dass sie überhaupt diese Dinge erlebt und darunter gelitten hatte, aber sie beteuerte sofort: "Eigentlich geht's mir gut, und ich bin auch schon drüber hinweg!" Ich bat sie, gut auf sich zu achten, bat sie, herauszufinden, was ihr gut täte, und das dann auch zu tun. Gab ihr manchen Rat, wenn sie mich ließ und sagte ihr, sie könne mich auch nachts um drei anrufen - was sie nie tat. Ich wünschte mir, ich hätte "um die Ecke" gewohnt, dann hätte ich sie in den Arm nehmen können.

Beiläufig erzählte sie mir, sie mache eine Verhaltenstherapie. Wir sprachen darüber, als sie mich mal besuchte, aber das Gespräch blieb an der Oberfläche. Ich hatte den Eindruck, "meine" S. würde dünner und durchsichtiger und war drauf und dran, zu verschwinden.

Dann tauchte ich eine Weile ab, beschäftigt mit meiner eigenen Seele und bisweilen unfähig, auch nur den Wahlknopf am Telefon zu betätigen. Was hätte ich irgendwem sagen sollen? Ich selbst war leer und voll zugleich und im Hier und Gestern auf einmal, nur den eigenen Horizont im Blick und froh darüber, unterwegs nicht zu ertrinken.

Als sie wieder anrief, erzählte sie mir, sie habe einen Burn-Out gehabt und sei krank geschrieben. Dieses Ereignis lag auch schon wieder seit Wochen zurück. Und eigentlich ginge es ihr wieder ganz gut, sie müsse halt sehen, wie sie zurechtkomme. Inzwischen arbeitet sie wieder. Sagt wieder nicht "Nein", nimmt wieder jedes Projekt an, lässt sich von ihrem Chef den Arm ausreißen und widmet sich liebevoll ihrem finanziell schlechter stehenden Lebensabschnittsgefährten (ich hoffe, es wird ein längerer Abschnitt, denn er scheint in Ordnung zu sein und der erste Mann, der überhaupt so nah an sie heran darf).

Am Wochenende wird sie mich mit ihm gemeinsam besuchen kommen. Ich habe Angst. Angst vor dem, was sich schon bei ihrem letzten Kontakt andeutete: Dass ich sie verliere. Sie vertraut sich mir nicht an, und seit ich selbst nicht mehr so hilfsbedürftig bin, scheint ihr Interesse ein wenig zu schwinden. Ich fühle mich manchmal wie ein Pflichtprogramm. Das soll nicht harsch klingen. Es macht mir nur Schmerzen. Es fühlt sich an, als sei da eine Glaswand, die es früher nicht gab. Ich weiß nicht, ob wir uns noch berühren. Ich würde gern, habe aber das Gefühl, was ich sage, prallt an einer inneren Barriere ab. Erzähle ich von mir, dann reagiert sie mit Gemeinplätzen, als habe sie auf einem Aphorismenlexikon geschlafen. Versteht sie mich noch? Verstehe ich sie? Unterscheiden sich unsere Lebenswelten zu sehr?

Ich vermisse S.. Es ist, als stünde ich am Strand und sie auf dem Schiff, das in Richtung Horizont verschwindet. Ich kämpfe mit mir, weil ich nicht weiß, ob ich sie ziehen lassen soll.

Ich bin hilflos und kann ihr nur sagen: Ich bin da, wenn Du mich brauchst. Und auch sonst.

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