Sturmflut
Donnerstag, 28. April 2011
Mauern, Gräben und Schubladen
Manchmal denke ich, ich bin ein Einzelkind. Die Lebenswelt meiner einzigen Schwester ist der meinen so fern, dass sie auch eine Fremde sein könnte. Wir haben so wenig gemeinsam. Dabei sind es nicht die Äußerlichkeiten.

Ich habe mir abgewöhnt zu glauben, die ganze Welt verstünde mich nicht. Unter anderem besonders, seit ich hier blogge. Ich erlebe das Gegenteil, und das ist eine erstaunliche und bereichernde Erfahrung. Besonders der Umgang mit Vertrauen und Offenheit ist ein Kapitel für sich. Ich machte nur den Fehler, den daraus resultierenden Optimismus auch auf meine Schwester zu übertragen. Der Fehlschluss lautet: "Wenn ich offen bin, zu meinen Gefühlen und meiner Haltung stehe, authentisch bin und weitgehend angstfrei, dann wird es mir auch gelingen, mit ihr in Beziehung zu treten." Der Wunsch ist nicht so abwegig, bedenkt man, dass ich nur diese eine Schwester habe. Die Erkenntnis schmerzt, dass ich mit meiner Annahme in dieser speziellen Hinsicht falsch lag.

Als ich meine Schwester das letzte Mal traf, traute ich mich zum ersten Mal in meinem Leben, offen über meine Gefühle zu sprechen. Bis dahin hatte ich in angespanntem Misstrauen verharrt, denn ich war mir der Tatsache bewusst (und bin es noch immer), dass sie dazu neigt, ihr in persönlichen Augenblicken Anvertrautes an Dritte, besonders gern aber an die Eltern weiterzugeben und/oder das Besprochene gegen mich zu verwenden. Das tut sie durch plötzliche gehässige Kommentare und Spitzen, die äußerst beißend und verletzend sein können. Dennoch war ich an einem Punkt, an dem ich mich fragte, was ich wohl noch zu verlieren hätte. Schließlich ist mein Wohl und Wehe nicht länger von ihrem Urteil abhängig, und gerade was die Eltern betrifft, haut mich sowieso nichts mehr aus den Schuhen. Alles, was ich jemals in dieser Sache verbaseln könnte, habe ich schon gründlich verbaselt und fühle mich dabei so großartig wie nie zuvor. Vor diesem Hintergrund schlich sich bei mir langsam eine ungeahnte Leichtigkeit und Gelassenheit ein. Lohnend, wie sich herausstellte, denn nach besagtem letzten Treffen, das mit ihrem kleinen Söhnchen in einem netten Lokal am See stattfand, bemerkte ich, um wie vieles entspannter ich nach hause ging und wie viel weniger ich mir den Kopf zerbrach darüber, was sich wohl meine Schwester über mich denken mochte und wie sie sich später hinter meinem Rücken in anderem Kreise darüber äußern würde.

Es ist also kein Risiko mehr für mich, einfach die zu sein, die ich bin. Selbst nicht in Gegenwart meiner Schwester. Aber die Illusion von echtem Kontakt, von wirklicher Beziehung zu ihr löste sich gestern in Rauch auf. Ich traf sie mit ihren Kindern zu einem Besuch im Tierpark. Ich hatte wohl die zarte Hoffnung gehegt, wir seien einander näher nach den letzten Gesprächen. Nachdem ich erzählt hatte von meiner Verzweiflung und Depression, von Missbrauch und Therapie, von meinen Gefühlen die Eltern betreffend, von meinen Schwierigkeiten und Eigenheiten, hatte ich wohl gemeint, irgend etwas müsse nun anders sein zwischen uns. Aber das war es nicht. Ihre Umarmung blieb reserviert, die Gesprächsthemen oberflächlich und vor allem spürte ich wieder einmal ihre Vorbehalte gegen mich und meinen Gatten (der wohl in ihren Augen ein humorloser, kontaktgestörter Kotzbrocken sein muss). Ja, und ich merke dann wieder: Es macht mir was aus! Auch wenn ich das nicht wie früher auf meine eigene Mangelhaftigkeit zurückführe, was schon mal ein Fortschritt ist.

Es sind die Mauern und Gräben zwischen uns, die mir doch irgendwie weh tun. Ich habe mich gezeigt, ein Stück weit entblößt, aber ich habe nicht die geringste Ahnung, was in meiner Schwester vor sich geht. Ich merke, während ich dies schreibe, dass ich sie auch nicht danach gefragt habe. Aber nicht, weil ich mich nicht getraut hätte. Es war bis jetzt undenkbar und daher auch ungedacht. Sie war immer Überlegenheit pur, bislang. Die Ältere, die Klügere, die Wissendere und auch diejenige, die die Standards setzte bezüglich dessen, was zu fühlen und zu erleben angemessen war und was nicht. Vielleicht schmerzt diese Rigorosität mich jetzt um so mehr, da ich merke, was alles gefühlsmäßig möglich ist, wenn man sich erst einmal auf den Weg macht, die absolut geglaubten Schranken zu überschreiten.

Jetzt allerdings bin ich in der Lage, die gesamte Situation zu quittieren mit dem Satz "Ich weiß ja, aus welchem Stall sie kommt!", was ich dann auch gestern abend prompt dem Gatten gegenüber tat. Diese Aussage ist weit weniger gehässig gemeint, als sie anfänglich vielleicht klingen mag. In der Auseinandersetzung mit meiner eigenen Geschichte habe ich selbst erfahren, woher die Mechanismen stammen, die unser seltenes Zusammensein (und offenbar auch ihr ganzes Leben) prägen. Ich kenne den übermächtigen Drang, sich selbst zu schützen. Ich kenne den Rückzug in den Kopf, den man immer dann antritt, wenn Fühlen zu gefährlich erscheint. Ich kenne die Herablassung und Abwertung anderen gegenüber, die dazu dient, das eigene, mühsam errichtete Lebensgerüst stabil zu halten. Weil das so ist, habe ich großes Mitgefühl mit ihr. Aber ich widerstehe dennoch der Versuchung, ihr ihre vermeintlichen Fehler oder Hindernisse vor Augen zu führen und ihr missionarisch einen besseren Weg aufzeigen zu wollen. Ich weiß auch das aus eigener Erfahrung: Wenn sich etwas ändern soll, dann muss es aus ihr selbst heraus geschehen.

So lange werde ich wohl irgendwie damit umzugehen lernen, dass meine Schwester unnahbar bleibt. Dass sie die Menschen in ihrem Umfeld harsch be- und entwertet (und ich habe nur eine ansatzweise Ahnung, in welchem Umfang sie dasselbe in ihrem eigenen Inneren tut). Dass sie für alle und alles unbedingt eine Schublade braucht. Dass Begegnungen mit ihr ohne wirklichen Kontakt bleiben, die Beziehungen ohne Tiefe. Dass Lebendigkeit in ihrer Gegenwart schwierig wird, sich Vielfalt auf ein Richtig und Falsch reduziert, Unbefangenheit, Spontaneität und Authentizität der Starre weicht.

Schlimm ist es, wenn ich mir meine kleine Nichte anschaue. Der Spielplatz des Tiergartens ist voller Kinder, die so sind, wie sie sind, wenn sie spielen. Dazwischen die kleine Maus, verschüchtert, leise, nachdenklich und so wenig Kind, dass es mir Angst macht. Sie ist ein Kind, das garantiert niemals irgendwo verloren gehen wird, weil sie gar nicht auf den Gedanken kommt, neugierig zu sein. Sie ist sauber, still und angepasst und schaut sich dreimal um, bevor sie den ersten Fuß in den tiefen weißen Sand des Spielplatzes setzt. Mein Beschützerinstinkt meldet sich, ich möchte sie ein wenig schubsen und sagen: "Lauf, und lebe!" Ich beiße mir auf die Lippe. Auf der Schaukel frage ich sie: "Schaukelt Mama auch manchmal mit Dir?" "Nein," sagt sie mit ihrem hauchdünnen Stimmchen, "Mama schaukelt mich nur an."

Ich wünsche meiner Schwester, dass sie auch mal schaukeln geht.

Meine Musik des Tages:
Marc Cohn - One Safe Place

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