Sturmflut
Sonntag, 14. Oktober 2012
Weserbergland (7): Gratwanderung
Hinter Stadtoldendorf umfing uns Wald, feucht noch vom Regen, schlagartig still. Ebenso schlagartig fühlten wir uns gelassener und entspannter und liefen wieder redend und gut gelaunt nebeneinander her. Man wird in mancher Hinsicht eigenartig menschenscheu, wenn man zu Fuß unterwegs ist, und wir genossen die wiedererlangte Zweisamkeit.

Das nächste Ziel war nur rund vier Kilometer entfernt. Mit Amelungsborn lag ein zweites Kloster auf unserer Route, und wir waren bereits gespannt, ob uns der Ort ähnlich berühren würde wie Bursfelde. Bereits zum Kloster Amelungsborn zugehörig war der alte, im Wald gelegene Mühlenteich, auf den wir nach einiger Zeit stießen. Im Schilf am Ufer stand ein Graureiher, auf den ich S. flüsternd hinwies. Er breitete seine Schwingen aus und erhob sich in den Himmel, sobald ich meine Kamera aus der Tasche gezogen hatte, als habe er beschlossen, sich nicht fotografieren zu lassen.



Hinter dem Mühlenteich führte der Weg durch dichtes Unterholz leicht bergan, und für einen Moment waren wir unsicher, ob das wohl die richtige Routenführung sein mochte. Uns wurde beim Anstieg auch schon reichlich warm.

Die Schilder wiesen beharrlich weiter in diese Richtung, und wir stießen schließlich mitten im Dickicht auf eine hohe Mauer. Hätten wir hier nicht eine metallene Leiter entdeckt, wären wir wohl umgekehrt, aber der Weg war tatsächlich so konzipiert, dass wir die Mauer übersteigen sollten. Was wir dann auch taten.

Unvermittelt standen wir in einem zauberhaften Kräutergarten, der ganz genau so aussah, wie man sich einen typischen Kloster-Kräutergarten vorzustellen hat. Umgrenzt von einem geflochtenen Zaun, sorgsam beschildert, lagen die rechteckigen, brettergefassten Hochbeete nebeneinander. Neben Küchenkräutern wuchsen dort auch Frauenmantel, Ringelblumen, Lilien und vieles andere.



Automatisch leise und fast ein wenig schüchtern gingen wir den gepflasterten Weg entlang um das Gebäude herum, vorbei an einer hübschen Sitzecke und in einen Hof. Beeindruckende Sandsteinbauten säumten den kopfsteingepflasterten Platz.



Hier war niemand zu sehen. Erst, als wir durch ein Tor in einer efeuberankten Mauer traten, stießen wir auf andere Menschen.

Wir wurden gleich für Pilger gehalten, was angesichts unseres Gepäcks und der Hüte auch irgendwie naheliegend war. Amelungsborn ist Pilgerherberge am Pilgerweg Loccum-Volkenroda. "Einfach nur wandern..." entgegneten wir verlegen lächelnd, aber das änderte überhaupt nichts daran, dass wir überaus offen und herzlich empfangen wurden.



Ein Mittfünfziger im Leinenhemd erklärte uns die architektonische Geschichte des Klosters und erläuterte, dass sich dort, wo wir gerade standen, früher der Kreuzgang befunden hatte. Er erzählte, von wo die Mönche zu ihren Gebeten herunter in die Kirche gekommen waren und warum die Gebäude so aussehen, wie sie heute aussehen. Am anderen Ende des friedlichen, gepflegten Hofes plätscherte ein Brunnen, dahinter stand eine Bank. Wir setzten unser Gepäck ab, streckten die Beine aus und überlegten gemeinsam das weitere Vorgehen.

Die Kirche wollten wir uns auf jeden Fall ansehen und betraten das Gebäude durch eine Seitentür. Drinnen war es still und kühl. An den Wänden des Flurs hingen Fotografien, die von der Geschichte Amelungsborns und seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg erzählten. Das Innere der Klosterkirche war matt erleuchtet durch das Licht, das durch die Spitzbogenfenster fiel. Einige Frauen räumten gerade bunte Tücher und Stühle zusammen, offenbar hatte es hier kurz zuvor eine Meditationsrunde oder etwas ähnliches gegeben. Während wir uns umsahen, begann eine Frau auf der Orgel zu spielen. Im hinteren Teil der Kirche gab es die Möglichkeit, Kerzen zu entzünden, die S. dann auch nutzte. Wir erstanden Postkarten und stempelten sie mit dem obligatorischen Pilgerstempel ab, dann setzten wir uns und ließen die Räume und das Orgelspiel noch ein wenig auf uns wirken.

Dann machten wir uns wieder auf den Weg. Auf der Vorderseite des Klosterbaues gab es einen Schaukasten, an dem wir stehenblieben, als neben uns ein alter, roter Kombi hielt. Ein bärtiger Mann schaute aus dem Fenster und fragte uns, ob wir nicht am Mittagsgebet teilnehmen wollten. Es war mir beinahe ein wenig unangenehm, als wir ihm sagten, dass wir weiterwollten, seine Einladung aber sehr freundlich fänden. Im Nachhinein bin ich mir inzwischen nicht mehr ganz sicher, ob S. nicht eigentlich gern zum Gebet gegangen wäre, aber sie sagte nichts.



So verneinten wir und liefen weiter, eine Kopfsteinpflasterstraße hinunter, die uns zwischen den Wirtschaftsgebäuden des Klosters hindurchführte und schließlich an einem Tor endete. Als wir hindurch traten, standen wir unvermittelt an einer Bundesstraße mit regem Verkehr - es war, als seien wir urplötzlich in eine andere Welt geworfen worden. Wir ließen das Kloster Amelungsborn hinter uns.

Von hier an ging es eine ganze Zeit an der Straße entlang, ehe der Weg abzweigte in Richtung eines kleinen, am Hang gelegenen Wohndorfes. Dort stiegen wir über Feldwege auf in Richtung Waldrand und fanden eine Bank, von der aus sich uns eine herrliche Aussicht über die Landschaft bot. Es war auch eine gute Gelegenheit, noch einmal Energie in Form von Keksen, Schüttelbrot und Wasser zu tanken, denn der folgende Aufstieg zum Ebersnacken hinauf sollte der höchste unserer Tour werden. Der weitere Weg führte uns hinter dem Dorf entlang. Dort riefen uns Anwohner zu, wenn wir auf der Suche nach dem Kloster seien, sei dies die falsche Richtung. Offensichtlich hatten sich schon häufiger Wanderer und Pilger in dieser Ecke verlaufen, was der noch äußerst lücken- und mangelhaften Beschilderung unseres Wanderweges zuzurechnen war. Aber wir fanden den richtigen Weg.



Es ging steil bergan durch den Wald, und wir kamen ganz schön ins Schnaufen, zumal es verdammt warm war. Für diesen Tag war ein Gewitter angekündigt, aber wir hatten diese Nachricht eher mit Gelassenheit aufgenommen, da es solche Prognosen auch schon für die vergangenen Tage gegeben hatte, es aber nie zu Blitz und Donner gekommen war. Die stetigen Anstiege gingen mir recht deutlich an die Kondition, und ich stiefelte immer mit gehörigem Abstand hinter S. her, die das Ganze leichter zu nehmen schien. Bisweilen hatte ich das Gefühl, meine Lunge würde platzen. Ich machte mir dann aber auch immer wieder klar, dass ich mit erheblich mehr Gepäck unterwegs war als S., Trinkwasser und Proviant mit eingeschlossen. Wir stiegen über Gratwege immer weiter an in Richtung Ebersnacken, und S. wartete geduldig auf mich, bis ich prustend zu ihr aufschloss.

Schließlich klingelte ihr Telefon, was mir eine längere Atempause ermöglichte. Wir blieben auf dem matschigen Waldweg stehen und S. ließ sich von ihrem Lebensgefährten darüber informieren, wie der Stand der Dinge im Bezug auf ihre Stellensuche war. Sie hatte eine Zusage für ein Vorstellungsgespräch in Halle an der Saale bekommen, was mich für sie besonders freute. Das beflügelte auch unseren Wandermut wieder ein wenig, und bis zum Ebersnacken war es auch nicht mehr weit.

Ich jubelte, als ich tatsächlich den letzten Anstieg geschafft hatte und hinter der nächsten Kuppe die Schutzhütte und der Aussichtsturm des Ebersnackens (460 m ü. NN) auftauchten. Pause und Aussicht hatten wir uns redlich verdient. Leider lag das Gipfelbuch nicht mehr in dem zugehörigen Holzfach am Fuße des Turms. Wir hätten uns zu gern eingetragen und auch die Spuren anderer Wanderer verfolgt. S. wollte ihrer Höhenangst wegen nicht mit auf den Aussichtsturm, aber ich konnte es mir nicht nehmen lassen, entledigt vom Gepäck leichten Fußes die Stufen des Holzturms hinaufzusteigen. Es hieß, dass man vom Turm aus bei klarem Wetter den Gipfel des Brockens und auch das Herrmannsdenkmal würde sehen können.





Oben bot sich mir allerdings ein anderer Anblick. Zwar konnte man die weite Landschaft rundum immer noch gut sehen, aber von Südwesten her wurde es zunehmend dunstiger, und über den Hügeln stand eine dichte Wolkenfront.



In der Ferne war Gewittergrollen zu hören. Mir wurde schlagartig klar, dass das hier der denkbar schlechteste Aufenthaltsort im Falle eines Gewitters wäre, und der Donner näherte sich weit schneller, als ich vermutet hatte. Ich machte eilig ein paar Bilder, damit S. in den Genuss des Ausblickes hier oben kommen würde. Gern wäre ich einfach stehen geblieben und hätte die Aussicht und die Atmosphäre genossen, aber es war einfach zu gefährlich.

"Wir sollten machen, dass wir hier weg kommen!" sagte ich zu ihr, als ich die letzten Stufen des Turms herunterstieg. "Das wird ein richtig dickes Gewitter!" Auch die am Turm liegende Schutzhütte stand nicht zur Wahl - zu hoch und exponiert lag hier das ganze Plateau. So schulterten wir unsere Rucksäcke und setzten unseren Weg über den Höhenrücken fort in der Hoffnung, schnell wieder in tieferes Gelände zu kommen.

Die Hoffnung erfüllte sich aber nicht. Wieder hatte S. einen reichlich schnelleren Schritt, und ich tat, was in meiner Kraft lag, um in dieser inzwischen doch leicht panischen Situation hinter ihr herzukommen. Die Donnerschläge nahmen an Häufigkeit und Nähe zu, und wann immer wir eine offene Freifläche auf dem Grat durchwandern mussten, war mein Bauchgefühl verdammt flau und unangenehm. Es begann, in dicken Tropfen zu regnen, und schließlich holte uns das Gewitter vollends ein. Wir hatten zu Fuß natürlich nicht den Hauch einer Chance, ihm davonzulaufen. Letztlich blieb uns nur, uns einen angemessen tiefer gelegenen Platz zu suchen und dem hohen, mit langen Fichten bestandenen Grat auszuweichen.

Der Verlauf des Weges bot uns da nicht viele Möglichkeiten. Er schlängelte sich auf und ab den Grat entlang, den die Landschaft nun einmal vorgab. In einer leichten Senke schlug ich S. schließlich vor, besser zu bleiben, anstatt wieder höher anzusteigen, weil ein Abzweig in tieferes Gelände für die nächsten Kilometer unwahrscheinlich war. Wir nahmen unser Gepäck vom Rücken und legten es einige Meter entfernt von uns ab. Auch die am Rucksack festgeschnallten Trekkingstöcke hatten mir erhebliches Unbehagen bereitet, und ich war froh, sie los zu sein. Wir hockten uns unter niedriges Gebüsch ins Gras, umschlangen unsere Knie und kauerten so am Wegesrand, während uns die Regentropfen auf unsere Kapuzen trommelten. Wir hofften inständig, dass sich das Gewitter bald verziehen würde und wir unseren Weg würden fortsetzen können.

Statt dessen fraß sich das Wetter so richtig fest. Die Donnerschläge wanderten von einer Seite zur anderen und wieder zurück, und immer, wenn wir meinten, es habe sich etwas beruhigt, krachte und blitzte es wieder von Neuem. Als sich eine leichte Lücke auftat, beschlossen wir, dass wir es wagen könnten, weiterzugehen, und so packten wir unser Zeug und machten uns auf. Glücklicherweise ging der Weg dann eine ganze Weile bergab, und wir fanden in einer Senke etwas abseits des Weges schließlich den Ansitz eines Jägers, der zumindest ein Dach über dem Kopf verhieß. Wir ließen die mit Regenhüllen versehenen Rucksäcke am Fuße der kurzen Leiter und drängten uns unter dem Pappdach zusammen. Um uns herum trommelte der Regen unverändert heftig auf den Waldboden, aber immerhin wurden wir nicht noch nasser, als wir ohnehin schon waren. Wir witzelten über unsere eigenartige Lage, naschten Weingummi aus S.'s Gepäck und waren uns einig darin, dass wir wahrscheinlich noch in Jahren über dieses schräge Ereignis würden lachen können.

Es in dem engen Häuschen auf Stelzen einfach auszusitzen, war allerdings auch nicht der Weisheit letzter Schluss. Es regnete weiterhin in Strömen, und der Ansitz, der ganz offensichtlich nicht für zwei Personen ausgelegt war und am Hang stand, bekam allmählich doch eine deutliche Schieflage, so dass wir uns kaum noch trauten, uns zu bewegen, geschweige denn zu lachen. Beim Blick in unsere Wanderkarte entdeckten wir das Signet für eine Schutzhütte in vielleicht anderthalb Kilometern Entfernung. Wir rappelten uns auf und ließen den inzwischen sehr schief stehenden Ansitz zurück. Ich nahm die Trekkingstöcke vom Rucksack und gab einen an S. weiter, und wir waren dankbar dafür, sie dabei zu haben. Der Weg war sehr matschig und rutschig.

Als an einer Weggabelung dann tatsächlich die beschriebene Schutzhütte auftauchte, waren wir extrem erleichtert. Um uns herum donnerte es nach wie vor unvermindert, aber die Lage des Häuschens verhieß doch mehr Sicherheit. An einigen Stellen tropfte es durchs Dach, aber insgesamt war es drinnen trocken.



Wir hatten festen Boden unter den Füßen und eine Bank zum Sitzen. Wir knabberten ein bisschen aus dem Proviant und vertrieben uns die Zeit mit Städtenamen-Spielen, und wir merkten erst zu diesem Zeitpunkt, wie gut es tat, etwas zu essen und sich wieder ein wenig sicherer zu fühlen. Ein nicht unerheblicher Teil des Weges bis Bodenwerder lag noch vor uns, und wir hatten bei all der Aufregung die Anstrengung, unsere Füße und das Gewicht unseres Gepäcks beinahe völlig vergessen.

Endlich legte sich das Unwetter. Letzte Tropfen rieselten aus den Bäumen und die Wälder um uns herum dampften.



Es war eindrucksvoll, wie sich die Landschaft nach diesem Wetter beinahe völlig verändert hatte.



Wir folgten den am Hang entlang mäandernden Weg und waren guten Mutes, auch wenn unsere Schuhe in knöcheltiefem Matsch einsanken, den die Harvester der Forstwirtschaft mit ihren gewaltigen Radprofilen hinterlassen hatten.



Es ging jetzt stetig leicht abwärts, und wir konnten zwischenzeitlich Bodenwerder immer wieder hinter den letzten kleineren Ausläufern des Voglers liegen sehen.





Als wir schließlich auf die ersten Häuser Bodenwerders trafen, schien uns bereits wieder die Sonne ins Gesicht und zauberte ein Glitzern in die nassen Buchen. Die Straßen trockneten allmählich ab, und wir freuten uns, bald anzukommen.



Unsere Pension mitten im Ortskern von Bodenwerder hatten wir über unser verspätetes Eintreffen per Telefon benachrichtigt, und die Wirtsleute hatten den Schlüssel an einer unauffälligen Stelle für uns deponiert. Uns erwartete kein Zimmer, sondern beinahe schon ein kleines Appartement im Dachgeschoss eines Fachwerkhauses. Die Zimmer waren sauber und ordentlich, und wir waren sehr froh, unsere nassen Sachen ausziehen und eine heiße Dusche nehmen zu können. Selten habe ich eine Dusche so genossen. Anschließend wusch ich meine schlammbespritzten Hosenbeine im Waschbecken und hängte sie im zweiten Zimmer zum Trocknen auf einen Bügel. Die feuchten Wanderschuhe stellten wir im Flur auf eine Plastiktüte und schlüpften in leichteres Schuhwerk. Der Inhalt der Rucksäcke lag ausgebreitet über Stuhllehnen, Schranktüren und Teppichboden, um hoffentlich am nächsten Tag wieder benutzbar zu sein.

Wir gönnten uns ein Abendessen beim Griechen und anschließend einen entspannten Spaziergang mit einem Eis in der Hand am Ufer der Weser entlang. Die Lichter gingen bereits an und spiegelten sich auf dem Wasser des Flusses. Überall in der Stadt bereitete man sich auf das für den nächsten Tag anstehende Stadtfest vor. Die Stimmung war gelassen und heiter.

Und wir schliefen nach diesem turbulenten, anstrengenden und herausfordernden Tag schließlich wie die Murmeltiere.

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