Sturmflut
Dienstag, 30. Oktober 2012
Erkenntnisse einer Berlinreise
Erstens:
Die Großstadt ist nichts für mich. Niemals könnte ich so leben, auch nicht nur ansatzweise. Allein die Reizüberflutung ist zuviel. Aber auch rumänische Kinder, die einem den Taubstummen vorspielen und als Spende "Minimum 5 €" wollen, sind mir zu viel. All die Baustellen sind mir zu viel. Der Gestank. Um Himmels willen, merkt denn keiner, wie die Stadt stinkt? Es ist entsetzlich. Mir fiel der Begriff "Miasma" ein. Besonders widerlich ist auch all die Werbung, all der Konsum. Ich rege mich schon auf, wenn an den Häuserwänden hier mal wieder eine Plakatwand montiert wird. Aber das ist nichts gegen diese abscheuliche Penetranz in der Großstadt. Und das Gepöbel auf den Straßen, Brüllerei, Alkohol. Damit verbunden die dauernde Notwendigkeit zur Abgrenzung. Nie zu lange gucken. Nie zu lange stehen bleiben. Wegschauen. Und die Gegensätze. In der Lenné-Straße beim Lessing-Denkmal ein Obdachloser, der bis zum Hals eingemummelt in seinen Schlafsack auf der Bank liegt. Drei Schritte weiter fetteste Autos, das Ritz Carlton, glänzende Bürotürme, die die ganze Nacht beleuchtet sind... Ohne mich.

Zweitens:
Wer mit einer Gruppe unterwegs ist, muss sagen, was er will, und zwar klipp und klar. Ich habe festgestellt, ich kann das. Und es tut überhaupt nicht weh. Und ich muss mich nicht ärgern, dass ich nicht gehört und gesehen werde, wenn ich mich hör- und sichtbar mache. Plötzlich bin ich da und kann mich an anderen spüren. Das ist fantastisch.

Drittens:
Menschen sind nie so, wie man zu Beginn vermutet. Sie überraschen einen doch oft mit Tiefe, mit unerwarteter Freundlichkeit oder verschrobenen Marotten. Komisch, anders manchmal, und häufig doch auch ganz warm und offen. Schön.

Viertens:
Mein Niederländisch ist doch besser, als ich dachte. Mut verleiht Flügel, sprachliche Kompetenz und grammatikalische Fähigkeiten, die man nicht hätte, dächte man darüber nach. Plötzlich unterhält man sich einfach. Und lacht gemeinsam über Fahrräder, deren Rückgabe noch aussteht.

Fünftens:
Gedenken lässt sich nicht verordnen. Entweder man fühlt es, oder man fühlt es eben nicht. In Berlin verspürte ich irgendwann nur noch Genervtheit ob des ganzen Gedenkens, ließ mich aber berühren von der "Pietà" von Käthe Kollwitz. Tränen in den Augen hatte ich allerdings, als wir bei Helmstedt auf der Autobahn den ehemaligen Grenzübergang hinter uns ließen - einfach so. Ich musste daran denken, wie anders das war, als ich mit 13 in die DDR fuhr. Zwischen den Stelen des Holocaust-Mahnmals indes war mir einmal mehr nach Spielen.

Sechstens:
Frieren ist abscheulich.

Siebtens:
Berlin wird nie eine Weltstadt, auch wenn oder gerade weil es sich so viel Mühe gibt. Berlin ist originell, witzig, eigen, sehenswert und an manchen Stellen sogar schön, aber es fehlt ihm die entspannte Gelassenheit, mit der andere Städte einfach sie selbst sind. Berlin will wer sein, ist aber allenfalls wer, der wer sein will.

Fazit:
Ich würde es wieder tun. Ein andermal. Mit denselben Menschen. Gern.

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