Sturmflut
Montag, 22. April 2013
We've got a thing going on.
Die Nähmaschine kam zum ersten Mal nach langer Zeit ans Tageslicht, als ich gemeinsam mit meiner Mutter das Haus meiner Großeltern ausräumte, in dem wir jetzt wohnen.



Das heißt, Mrs Singer hat dieses Haus rund vierzig Jahre lang nicht verlassen, außer vielleicht zu Wartungsarbeiten. Ich fand sie eingelassen in ein passendes Schränkchen aus rötlichem Holz in der Küche vor dem Fenster. Ein sperriger, wuchtiger Gegenstand, der nur im Weg stand und über den, wie über so vieles andere damals, entschieden werden musste: Weiterverwenden, einlagern, verschenken, verkaufen, wegwerfen?

"Ich könnte sie doch noch gebrauchen", sagte ich zu meiner Mutter. "Ach, die ist kaputt", meinte sie mit felsenfester Überzeugung. Trotzdem blieb die Maschine im Haus, zusammen mit einigen schlichten, ziemlich zeitlosen Arcoroc-Schüsseln und einem Satz Sektgläser. Unter Aufbietung all unserer Kraft wuchteten der Gatte und ich das komplette Ensemble erst einmal auf den Dachboden. Dann irgendwann kriegte ich Hummeln im Hintern und holte sie wieder herunter. Auf den Schrank beschloss ich zu verzichten und stellte ihn zum Sperrmüll vor die Tür.

Es blieb dann bei einem zaghaften Versuch, die Nähmaschine unter Strom zu setzen.



Ich rechnete mit Rauchentwicklung, Gummigeruch und durchgebrannten Sicherungen, aber nichts dergleichen geschah. Mangels Fachkenntnis und weil sie doch eher raumgreifend ist, wanderte sie dann, vor Staub geschützt durch einen gelben Sack, in den Keller. Mit ihr die Berührungs- und Schwellenängste, aber nicht die Phantasien über Selbstgemachtes. So ganz aus dem Kopf ging sie mir einfach nicht.

Auf der alten, dunkelgrünen Anker meiner Mutter hatte ich mir als Mittzwanzigerin mal einen geraden, einfachen Rock aus hübschem, schwarzen Babycord mit Bändchenapplikation genäht, aber seitdem hatte ich den Fuß nie mehr auf dem Pedal. Praktisch war damals, dass meine Mutter neben mir saß und mir Ratschläge gab - beim Zuschnitt, beim Stecken, Heften, Nähen. So jemand fehlte mir jetzt, und Mrs Singer sieht außerdem auch noch vollkommen anders aus als die Anker.



Sämtliche aus der städtischen Bücherei entliehenen Grundlagenwerke über das Nähen brachten mich der Praxis auch kein Stück näher, weil die Anleitungen ohne analog dazu ausgeführtes Handwerk inhaltslos und theoretisch blieben. Eigentlich ganz einfach - das höre und lese ich allenthalben, sowohl von Schwiegermutter und Schwägerin als auch in diversen Blogs und Büchern. Hm.

Hilft ja nix. Um die magische Schwelle von grauer Theorie zu samtiger Praxis zu überschreiten, müsste ich es wohl einfach machen. Also fragte ich meine begabte Schwägerin, ob sie mir nicht mal die Grundfunktionen von Mrs Singer erläutern könne. Sie stimmte begeistert zu, und eine Woche später traf sie nachmittags bei mir ein. Wir tranken Tee, aßen Kekse und redeten über Pläne - was man alles mit den eigenen Händen herstellen, ins Leben rufen kann. Dann stöpselten wir die etwas schüchtern auf dem Küchentisch stehende Nähmaschine an den Strom, und tatsächlich begann sie auf sanften Pedaldruck hin, diverse Hebel fleißig auf und ab zu bewegen. Aber was war jetzt wofür gut? "Ich glaub'...", meinte Schwägerin und deutete auf die verschiedenen Haken und Ösen, "... und dann hier durch, und dann da durch... Aber wofür der Knopf da ist, das ist mir auch noch nicht klar!"



Später am Abend, als sie gegangen war, stellte ich die Nähmaschine auf den Esstisch und schloss sie noch einmal an. Obwohl korrekt mit Nadel, Faden und Unterfadenspule versehen, weigerte sie sich hin und wieder aus unerfindlichen Gründen standhaft, sich weiter zu bewegen. Eine Nadel brach sogar ab. Ich war frustriert, klaubte einen Schraubenzieher aus dem Kasten des Gatten und entfernte sämtliche Gehäuseabdeckungen, um nachzusehen, was da still stand. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich den Übeltäter mit Hilfe des Gatten schließlich dingfest machen konnte. Dem entscheidenden Zahnrad fehlten diverse Zähne, weshalb dann eben ab und an der Spulenkapselträger nicht weiter bewegt wurde. Daran beißt sich dann auch die härteste Nadel die Spitze ab, von Stofftransport gar nicht zu sprechen.

Ich machte das Ersatzteil tatsächlich für kleines Geld im Internet ausfindig, drei Tage später traf es ein, war schnell eingebaut und siehe da: Mrs Singer funktionierte. Beinahe.



Ein bisschen launisch war sie schon noch, musste neu synchronisiert werden, und der Halter für die Spulenkapsel verkantete sich immer wieder, was zu wildem Fadengefusel unter der Stichplatte führte und etwas Feinkalibrierung nötig machte. Aber dann...

Nähzubehörcheck:
  • scharfe Stoffschere - vorhanden
  • kleine Schere - vorhanden
  • ausreichend Unterfadenspulen - vorhanden
  • Maschinennadeln in verschiedenen Stärken - vorhanden
  • Stoffreste zum Üben - vorhanden
  • Garn in diversen Farben - vorhanden
  • Stecknadeln mit Glaskopf - vorhanden
  • Heftgarn - vorhanden
  • Handnähnadeln - vorhanden
  • Literatur, auf die im Notfall zurückgegriffen werden kann - vorhanden
  • Ideen - vorhanden
  • Schnittmuster - vorhanden
  • diverses Zubehör und viele, viele Knöpfe - vorhanden
  • Nadelkissen -
Nadelkissen? Sowas habe ich bislang nicht gebraucht. Das Sofapolster tat es auch. Aber jetzt?

Zuerst habe ich eine Pyjamahose eingekürzt, die ich mir vor längerer Zeit einmal in der Herrenabteilung eines Kleidergeschäfts gekauft habe in der optimistischen Annahme, dass was für Männerbeine lang genug ist, auch für die meinen ausreichen wird. Nichts da. Die Pyjamahose beulte an den Knien und war immer die entscheidenden acht Zentimeter zu kurz. Jetzt habe ich eine Schlafshorts und an den Beinen gleich das Säumen geübt, auch wenn man nicht sooo genau hinsehen sollte.



Die abgeschnittenen Beine dienten als Stoffressource und wurden zusammen mit einem hellblauen Stoffrest, Schrägband, Kordel, einem D-Ring und einem Knopf zur Deko zu meinem Debut-Stück verarbeitet. Jetzt habe ich auch ein Nadelkissen.



Und darüber hinaus die Erkenntnis, dass man nicht theoretisch nähen kann. Es kann also losgehen.

Me and Mrs Singer, we've got a thing going on.

Meine Musik des ersten Näh-Tages:
Björk - Vespertine

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