Sturmflut
Freitag, 21. Februar 2014
Doch alles ganz anders
Es ist so eigenartig, plötzlich keine Zeit mehr zu haben. Natürlich hat der Tag immer noch 24 Stunden, aber mir erscheint er ständig zu kurz. Ob das daran liegt, dass ich in den letzten drei Wochen nur zwei Mal halbwegs pünktlich Feierabend hatte oder dass ich an zwei von fünf Wochentagen so früh aufstehe, dass mir abends nach gar nichts mehr ist, weiß ich nicht. Ich denke nur jeden Tag: "Ach, schon wieder Schlafenszeit." Und ich bin gut beraten damit, nicht allzu spät ins Bett zu gehen. Für meine Eulentaktung ist das die totale Verwirrung.

So froh ich bin, meine Arbeits- und Perspektivlosigkeit los zu sein, denke ich aber trotzdem gern zurück an die Nachmittage, die ich mit Werkeln am Fahrrad, dem Streichen des Gartenzauns und Versenkung vor Photoshop verbrachte. Jetzt ist die Zeit ein knappes Gut. Was mir nicht passiert, ist Langeweile. Das ist ein schönes Gefühl. Ich habe keinerlei Einwände.

Interessant ist aber, dass ich irgendwie gar nicht dazu komme, mich wirklich zu fragen, wie es mir zur Zeit seelisch geht. Klar, für grobe Befindlichkeiten habe ich durchaus eine Antenne. Aber die Zeit, die wirklich frei ist, geht für Regeneration drauf. Da ist nicht mehr viel Energie übrig für Selbstbespiegelung und Pegelstandsmeldungen an mich selbst. Deswegen schreibe ich auch gerade wenig. Hier nicht, nicht in anderen Blogs und auch nicht, was Mails betrifft.

Ich hätte nicht gedacht, dass sich Leben von einem auf den anderen Tag so vollständig anders anfühlen kann. Da waren natürlich immer Brüche in meinem persönlichen Zeitstrahl, verursacht durch Umzüge, Uniwechsel, noch mehr Umzüge, neue Jobs. Aber ich bin doch vor allem in den letzten Jahren so von einem ins andere geglitten. So abrupt wie jüngst war es selten.

Es gibt so viel Neues, auf das ich mich jetzt einstelle, obwohl ich das kaum bemerke. Ich frage mich, ob ich meine eigene Anpassungsleistung gerade zu gering schätze. Vom Phlegmatismus meiner vorherigen Arbeit merke ich nichts mehr. Nichts ist Routine, nichts ist eingeschliffen, noch nichts hat sich abgenutzt. Das hat seine Vor- und Nachteile.

Ich merke, wie gut es mir tut, dass die Dinge in Bewegung sind. Ich habe gerade eine alte Haut abgestreift und staune, wie wenig ich sie vermisse. Ich bin in der neuen aber auch sehr, sehr sensibel. Vermutlich sind es die verbliebenen Konstanten, die mir gerade das Leben retten und mir diese Anpassungsleistung ermöglichen. Beispielsweise, dass der Gatte die alte Gewohnheit sofort wieder aufgenommen hat, mir morgens im Bad eine Tasse frischen Kaffee hinzustellen, jetzt, da wir wieder gleichzeitig aufstehen. Er weiß ja, dass ich morgens der Totalmuffel bin und niemals dazu käme, mich an den Küchentisch zu setzen und dort den Kaffee zu trinken. Diese Geste vereint so viel in sich - Liebe, Aufmerksamkeit, Respekt gegenüber meiner Art und Koffein.

Oder der Zwischenstopp auf Freundin I.s Sofa, gestern nach der Berufsschule. Wie üblich begrüßte mich ein wunderbares Arrangement aus Süßigkeiten, selbstgebackenem Kuchen und Tee, und dazu kam I.s toller, trockener Humor, mit dem sie die Dinge auf den Punkt bringt. Erleichtert lehnte ich mich in ihre Kissen und freute mich, einem normalen Menschen zu begegnen, bei dem ich mich weder verstellen muss noch der es selbst nötig hat, Show zu machen.

Morgen dann, wie so oft samstags, besuchen wir J. und A., und vielleicht werde ich Glück haben, und eine ihrer Katzen wird sich auf meinen Schoß legen und dort bleiben, bis der Film zu Ende ist. Auch das ist ein Fixpunkt in dieser stürmischen Zeit, selbst wenn das gründliche Kraulen von Katzenfell auf den ersten Blick banal wirkt. Es ist entgegengebrachtes Vertrauen, das mich ehrt, und die Begegnung mit A. und J. ist wie die mit I. - unverstellt, echt, sauber, ruhig. Kein Tamtam, keine Allüren, da muss sich niemand beweisen, niemand den anderen beeindrucken.

In meinen Niederländisch-Kurs habe ich mich aus ähnlichen Gründen eisern verbissen. Auch wenn der Tag gelaufen ist, wenn ich gegen zehn Uhr abends dann wieder nach hause komme, und auch wenn das Geld zur Zeit knapp ist - der Dienstagabend ist ein wöchentliches Highlight. Wir lachen viel zusammen, wir lernen viel, und Lernen in ungezwungener Runde kann ich gerade jetzt besonders gut gebrauchen. Es geht tatsächlich noch mehr rein in meinen Kopf. Wie es scheint, müssen nur die Voraussetzungen stimmen.

Das ist, was mich zusammenhält. Ich merke, dass darin ein eklatanter Unterschied besteht zu meinem Leben, wie es früher war. Ich habe mich damals eingemauert und so sehr misstraut, dass das, was mir andere an Gutem zu geben hatten, gar nicht ankommen konnte. Ich hätte mich nie fallengelassen. Ich hätte nie, abends um halb neun aus der Agentur kommend wie am letzten Montag, vor Wut über die Kollegin und vor Erschöpfung einfach geheult und mich trösten lassen. Ich hätte angenommen, die Zähne zusammenzubeißen und das alles ohne einen Mucks zu schultern sei die von mir geforderte Verhaltensnorm. Ich hätte mich noch allenfalls gewundert, wieso ich so gequält und fern von mir und unendlich einsam gewesen wäre.

Erschöpft von der Arbeit, gestresst, traurig, müde, wütend, ausgelastet, voll im Ellenbogentraining - alles das ist besser. Tausendmal besser als dieser eiskalte Zustand verzweifelten Selbsthasses.

Es ist nichts mehr wie früher.

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