Sturmflut
Freitag, 25. September 2015
Nützlich
Den eigenen Geburtstag herbeizusehnen ist ein Gefühlszustand, der mir irgendwann in der Teenagerzeit vollständig abhanden gekommen ist. Vielleicht liegt es am Älterwerden und daran, dass man sich daran gewöhnt. Es könnte auch sein, dass man allmählich begreift, Geburtstage fühlen sich auch nicht anders an als andere.

In meiner Kinderzeit war da noch die Freude über den Umstand, dass man Wünsche äußern durfte, die dann manchmal auch erfüllt wurden. Meine Mutter dekorierte sorgfältig den Frühstückstisch. Sie umrahmte mein rundes Frühstücksbrett mit Teelichten und Blumen. Mein Vater spielte zum Wecken von außen am Türrahmen meines Zimmers die kleine Drehorgel mit "Happy Birthday", die er tags zuvor heimlich aus meinem Setzkasten genommen hatte (als hätte ich das nicht bemerkt).

Es steckt mir in den Knochen, vorwegnehmend auf die Erwartungen anderer zu reagieren, und so war das auch immer im Zusammenhang mit Geburtstagen. Ich dosierte sehr angemessen die Freude, die über ein Geschenk erwartet wurde, sagte artig danke (auch mit 15, 16, 18, 20 Jahren). Dass das jedweder Art von wirklicher, aufrichtiger Freude den Garaus machte, brauche ich wohl nicht wirklich zu erwähnen.

Meine Geburtstage waren komplexbeladen. Im Mittelpunkt zu stehen, ohne das verdient zu haben, war mir immer massivst unangenehm. Woher die Verknüpfung "Geburtstag" und "Verdienthaben" kam? Ich habe eine Menge Vermutungen hierzu. Ich habe irgendwann aufgehört, meinem Geburtstag überhaupt große Beachtung zu schenken. Wie erbringt man die Gegenleistung für's Geborenwerden? Ich stand knietief in der Schuld - in ihrer Schuld.

Da sind Freunde, die jedes Jahr ihre Gratulation einleiten mit den Worten "Ich weiß, Du legst nicht so viel Wert darauf, aber trotzdem...!". Ich begreife plötzlich, dass diese Menschen mir gerne sagen möchten, sie freuen sich, dass es mich gibt. Mein Dank an sie kann endlich aufrichtig sein, keine Pflichtleistung, keine Entschädigung dafür, dass sie sich mit mir auseinandergesetzt haben. Dieser Dank steht für sich. Er genügt aber auch.

Es ist eine verdrehte Welt in meinem Inneren, die noch mehr als ich ahnte von Selbstverachtung geprägt ist. Ich bin bisweilen erschüttert darüber, häufiger jedoch ist mir das vollkommen unhinterfragte Gewohnheit. Noch, wage ich zu sagen. Gerade bricht eine Schale auf.

Seit Ende 2008 habe ich keinen Kontakt mehr zu meinen Eltern. Zum Teil habe ich mir auch Geburtstagsgeschenke verbeten und wieder zurückgeschickt. Sie haben dann Formen gefunden, mich dennoch zu beschenken, wie beispielsweise mit dem Zeitungsabonnement. In diesem Jahr kam ein Taschenkalender mit dem Titel "Zeit für Neues". Das hätte ihnen so gut gefallen, schreibt meine Mutter dazu in eine Klappkarte. Und möglicherweise könne man sich ja mal zu einem Plauderstündchen treffen. Und übrigens habe sie jetzt auch ein i-Phone. Die Nummer notierte sie dazu.

Zeit für Neues. In ihrem Leben hat sich sicher einiges verändert, seit wir uns zum letzten Mal wirklich gesehen haben. In meinem auch. Ich begreife den dringlichen Wunsch hinter ihren Worten. Ihre Nachrichten waren noch nie ohne Subtext und sind es auch dieses Mal nicht. "Bitte erlaube uns, Dich wiederzusehen. Wir müssen uns auch über nichts Gravierendes unterhalten! Schaffe eine neue Verbindung!" Ich verstehe die Hilflosigkeit, die darin steckt. Das bedeutet nicht, dass ich entsprechend handeln werde.

Was ich spüre ist, dass sie mich brauchen. Ich überlege, wie das mit anderen Menschen ist, die um mich sind. Natürlich braucht jede/r von uns, so wie wir miteinander sind, immer auch wieder einen Freund, ein offenes Ohr, Rückhalt, Freude aneinander, Freundschaft eben. Aber Freunde sind nicht wie Eltern. Meine Eltern hatten immer den Anspruch, einmal zu unseren Freunden zu werden. Besonders mein Vater hat das immer wieder betont. Ich halte das für unmöglich. Die Art, auf die mich meine Eltern brauchen, ist völlig anders als die Art, wie sich Freunde brauchen.

Ich bin übersensibel geworden für die Bedürfnisse meiner Eltern. Ich habe mir in meinem Leben so viel Scheiß von ihnen anhören dürfen. Erst aus der dringend nötigen Distanz heraus kann ich begreifen, wie missbräuchlich dieses Verhältnis eigentlich wirklich war. Ich war ihre Bühne, ihre Projektionsfläche, ihr Blitzableiter. Ich war Wärmespender, Nähegarant, sexuelles Objekt. Ich war Kummerkastentante und Küchenpsychologin, Telefontrösterin, Mülleimer. Ich war ihre Traumleinwand, ihr Ersatz für ungelebte eigene Ziele. Ich war ihr Kumpel, ihr Sohn, ihr Spiegelbild. Ich war ihr Sorgenkind, damit sie die eigenen Probleme nicht sehen mussten. Das alles war zwar nicht der Grund, aus dem sie mich in die Welt gesetzt haben. Aber es war mein Zweck.

Überzeuge jemanden, den Du eigentlich nur benutzt, wenn Du ihn brauchst, davon, dass er Dir etwas bedeutet.

Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Schön, dass es Dich gibt!

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