Sturmflut
Sonntag, 15. November 2015
Inzwischen
Die ersten zehn Tage Krankschreibung haben mich davor bewahrt, vollständig zusammenzubrechen. Ich hätte es nicht einen Tag länger ausgehalten, bei der Arbeit zu funktionieren, mich zusammenzureißen und zehneinhalb Stunden täglich durchzuhalten.

Als diese zehn Tage sich dem Ende näherten, wuchs der Kloß in meiner Brust. Ich habe versucht, darüber hinwegzureden, mir einzureden, dass es schon klappen würde. Ich habe versucht, das selber zu glauben. Nachts blieb ich schlaflos, drehte mich von einer Seite auf die andere. Ich hasste mich dafür, nicht schlafen zu können. Hasste mich für meine Angst und Unzulänglichkeit. Schlich aus dem Schlafzimmer, um den Gatten nicht zu wecken. Schlich wieder hinein. Versuchte, die Augen offen zu halten, in der Hoffnung, dadurch müde zu werden. Starrte im Dunkeln die Decke an, ehe die Lider schwer wurden, nur um mich im Kabinett des Grauens wiederzufinden, in dem sich alles nur um die Angst drehte. Unbegründete, begründete Angst. Angst vor Anforderungen, vor Fragen, vor Tränen, vor Lügen, davor, mich selbst zu verlieren.

Ich stand wieder auf. Setzte mich auf das Sofa in meinem Zimmer. Blieb dort ein paar Minuten. Stand wieder auf. Lief im Wohnzimmer auf und ab und betrachtete das orange Licht der Straßenlaternen, dass durch die Ritzen der Jalousie hereinkam. Konnte nicht weinen, trotz der völligen Übermüdung. Ging wieder die Treppe hinauf, setzte mich oben im Flur auf den Teppich und wünschte, ich könnte einfach zu atmen aufhören.

Nebenan schlief der Gatte. Ich versuchte, mir vorzustellen, was ich tun könnte. Hineingehen, ihn wecken, ihm sagen, dass ich nicht mehr kann. Undenkbar. Unzumutbar. Ich bin unzumutbar. Ich kann nicht, ich kann ihn nicht wecken. Ich kann mich ihm nicht zumuten. Hinausgehen aus der hinteren Tür. Runter zum Fluss im Dunkeln.

Ich konnte ihn wecken. Etwas in mir fand, dass ich das kann. Wir sprachen drei Stunden lang, mitten in der Nacht.

Zuzugeben, nicht mehr zu können, fühlte sich an wie eine Kapitulation und tat unendlich weh. Ich sagte es ihm. Dass ich drauf und dran sei, ihn zu bitten, mich in die Psychiatrie zu fahren. Dass ich den Wunsch hätte, alle Kontrolle, allen Willen abzugeben, wenn nur der Schmerz endete.

Am Morgen saß ich in der Praxis meines Hausarztes und tat, wogegen ich mich jahrelang gewehrt habe. Ich bat ihn um medikamentöse Hilfe. Zitternd, erledigt, unsicher und unendlich müde. Er half, so verständnisvoll wie kein Arzt vorher. Er schrieb mich weiter krank und bat mich um telefonischen Kontakt in den folgenden Tagen und Wochen. Ich sprach mit meinem Therapeuten. Ich sprach mit meinem Mann. Meine engsten Freunde fragten immer wieder, wie es mir gehe. Meine Schwiegermutter rief an.

Ich war nicht allein. Auch wenn die Hölle der Depression etwas ist, das niemand so erlebt wie jemand anderes, war ich trotzdem nicht allein. Ich bin den Menschen um mich herum zutiefst dankbar dafür.

Ich atme wieder weiter.

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