Sturmflut
Sonntag, 3. Januar 2016
"Ich muss erstmal
das Schlimmste annehmen!"
Es gibt da so ein Klischee, das wie wohl alle Klischees seine Wurzeln im realen Leben hat und für diejenigen, die es erleben, weit mehr ist als das. Die Situation: Eine Frau ist nachts allein unterwegs, geht im Dunkeln einen Bürgersteig entlang und hört plötzlich hinter sich Schritte, die ihr lange Zeit in einem gleichmäßigen Abstand folgen. Sie wirft einen Blick über ihre Schulter. Sie sieht, es ist ein Mann. Der geht auch nicht weg. Sie bekommt Angst.

Das ist mir auch schon mal passiert, mit dem Unterschied, dass der Verfolger ein Auto hatte, mit dem er immer wieder an mir vorbei fuhr. Nicht weit von meiner Wohnung stieg er dann aus und folgte mir zu Fuß. Auch ich kriegte Panik, beschleunigte meinen Schritt, sah immer wieder zurück und war erleichtert, als ich schließlich meine Haustür hinter mir schließen konnte. Mir klopfte das Herz bis zum Hals, und ich machte erstmal kein Licht in meiner Wohnung. Ich wollte keinen Hinweis liefern, hinter welcher Tür ich verschwunden war.

Neben meiner Angst fühlte ich aber noch etwas anderes: unfassbare Wut. Ich hatte mich wegen dieses Typens verkrochen! Er hatte die Macht, mich von der Straße in den Schutz meiner Wohnung zu drängen. Ein bis dahin wunderbarer, sommernächtlicher Stadtspaziergang war mir von jemandem verdorben worden, der meinte, sich mir gegenüber bedrohlich verhalten zu dürfen. Die Wut steigerte sich noch, als ich einer Beamtin auf dem Polizeirevier davon erzählte. "Was sind Sie auch so spät noch allein auf der Straße? Das ist halt gefährlich!" Bis dahin war ich ständig nachts in meiner 160.000-Einwohner-Stadt unterwegs gewesen, auch oft allein und zu Fuß oder in öffentlichen Verkehrsmitteln. Mir passierte niemals etwas. Natürlich wurde ich hier und da mal angesprochen oder angepöbelt und hatte auch manches Mal Angst. Aber das hat mich nie davon abgehalten, grundsätzlich davon auszugehen, dass ich genau dieselbe Berechtigung habe, auf der Straße zu sein wie jeder andere Mensch auch. Also war ich auch auf der Straße.

Wenn mir tatsächlich mal was passiert wäre, dann hätten sicher einige Menschen gesagt, ich sei daran selbst schuld gewesen. Das nennt man "victim blaming", die Täter-Opfer-Umkehr. Ihr liegt die Fehlannahme zugrunde, dass Opfer zu ihrem Opfersein etwas beigetragen oder es sogar selbst verursacht hätten. Das ist im Falle von Vergewaltigungen beispielsweise der berüchtigte zu kurze Rock, der zu tiefe Ausschnitt, das zu späte oder fehlende "Nein". (Nicht, dass ein "Nein" in der Rechtsprechung unseres Landes ohnehin allzu viel wert wäre.) Oder eben auch die Unverschämtheit, sich zu später Stunde allein draußen aufgehalten zu haben. "Was sind Sie auch so spät noch allein auf der Straße?"

Neulich las ich bei Twitter den dringenden Aufruf einer Frau an die Männer, sich doch bitte genau zu überlegen, ob sie eventuell bedrohlich wirken könnten, bevor sie auf Frauen zugehen, sie ansprechen, ihnen nahekommen. Sie bat Männer, die hinter einer Frau liefen darum, schnell zu überholen oder die Straßenseite zu wechseln, damit die Frau nicht in Angst oder gar Panik ausbrechen müsse. Ich habe tatsächlich keine Schwierigkeiten, mich in die Lage eines (möglichen) Opfers hineinzuversetzen und die Bitte nachzuvollziehen. Zwar bin ich in meinem Leben noch niemals vergewaltigt worden. Begrapscht hat mich in der Öffentlichkeit auch noch niemand, und bis auf diesen einen nächtlichen Vorfall hat mich auch noch kein Mann nachts im Dunkel verfolgt. Dafür kenne ich ziemlich gut das Gefühl, im eigenen Haus, im eigenen Zimmer, im eigenen Bett nicht sicher zu sein. Meine ganz persönliche Panik und mein inneres Erstarren kenne ich von Schritten im Flur vor der Tür meines Kinderzimmers. Das lasse ich mal so stehen.

Ich bestreite nicht, dass die Gewalt, die gegen Frauen ausgeübt wird, strukturell prägend für unsere Gesellschaft ist. Sie ist permanent vorhanden, und ich kann sie selber ebenfalls spüren - öfter, als ich sie benennen kann. Mit dem häufig gebrauchten Begriff der "rape culture" befinde ich mich noch in Auseinandersetzung. Ich sehe die Eigenverantwortung eines jeden Mannes, nicht zum Vergewaltiger oder Belästiger zu werden - da kann der Rock noch so kurz, der Alkoholpegel noch so hoch und die Stunde noch so spät sein. Wenn ich eins nicht ausstehen kann, dann dass man traumatisierten oder psychisch anderweitig leidenden Menschen den "guten" Rat mit auf den Weg gibt, sie müssten doch "einfach nur" an ihrer Einstellung arbeiten. So einfach ist das nicht. Aber etwas in mir wehrt sich gegen diese Sippenhaft für Männer. Ist es sofort "victim blaming", wenn ich festhalte, dass es unfair ist, alle Männer pauschal als Bedrohung und somit als potentielle sexuelle Straftäter zu betrachten? Ist es "victim blaming", wenn ich finde, dass es unsere Aufgabe als Gesellschaft aus Männern und Frauen ist, etwas zu ändern?

Es wäre mir zu doof, demütig "die" Männer darum zu bitten, doch sanft und rücksichtsvoll mit uns Frauen umzugehen, weil wir eventuell in unserer Vergangenheit von ihren Geschlechtsgenossen verletzt und traumatisiert worden sein könnten. Die Wut, die man als Opfer zunächst gerechtfertigterweise noch auf den Täter verspürt, wendet sich langsam aber sicher gegen das eigene Innere und frisst es auf und lässt nichts als das Gefühl von Wertlosigkeit und hoffnungsloser Unterlegenheit zurück. Aber diese Wut gehört raus. Sie gehört in Selbstermächtigung und Wehrsamkeit investiert. Genau so eine Haltung kann einem allerdings ganz schnell als "victim blaming" ausgelegt werden, weil sie so verstanden werden kann, als sei es Aufgabe der Opfer, das Verbrechen zu verhindern. Das ist es niemals. Es ist auch nicht in Ordnung, die Mühe der Veränderung allein auf das individuelle Opfer abzuladen. Gegen eine strukturelle Gewalt kann das keine Lösung sein.

Spüre ich wiederkehrende Panik und Angst, dann sollte mir dennoch auch klar sein, dass ich das Recht auf Hilfe und Heilung habe. Anzuerkennen, dass man Opfer wurde und vielleicht auch immer noch ist (in unterschiedlicher Ausprägung), halte ich für wichtig. Ich denke, wenn man den erlittenen und aktuellen Schmerz und die Einschränkungen nicht spürt, vertut man die Chance, gut zu sich selbst zu sein und sich darüber hinaus zu entwickeln. Spüre ich Wut wegen der Begrenzungen und Gewalttaten meines Alltags, dann sollte ich mir dennoch erlauben, mich zur Wehr zu setzen. Ich sollte mich entscheiden dürfen, kein Opfer werden zu wollen, ohne dass mir zur Last gelegt werden darf, dass ich trotzdem eines wurde oder werde. Ich glaube, wir unterschätzen chronisch unsere eigenen Möglichkeit zur Veränderung, auch zur Veränderung der Strukturen.

Ich handele in meinem eigenen besten Interesse, wenn ich mir diese Möglichkeiten klar mache, ohne zu verkennen, was mir in der Vergangenheit an Schmerz und Gewalt angetan wurde. Auch wenn ich das Schlimmste erlebt habe, muss ich für die Zukunft nicht weiterhin vom Schlimmsten ausgehen, wie es mir die erwähnte Twitterin schrieb. Ich habe mich selbst in einer Therapiesitzung einmal mit einem Reh verglichen, das im Licht der Scheinwerfer steht - geblendet und gelähmt. Die Blendung, die uns mit auf den Weg gegeben wird, besteht darin, dass uns permanent gesagt und gezeigt wird, wir seien machtlos. Wir sind aber nicht die geborenen Opfer, so wie Männer nicht die geborenen Täter sind.

Wir werden dazu erzogen, und zwar unter anderem durch unsere Mütter. "Nimm Dich in Acht", "Pass auf mit den Jungs", "Sei vorsichtig" - das "Aufpassen" ist so vollkommen die Pflicht der Mädchen und Frauen. Das transportiert eine Schicksalsergebenheit, ein ständiges Abwehren und Reagieren "dem" Mann gegenüber, das seine Täterschaft und das eigene Opfersein schon mit einschließt. Unabhängig davon, dass diese Haltung der Mütter wiederum selbst erlebter struktureller Gewalt entsprang, besteht die Möglichkeit und Notwendigkeit, sie zu überwinden. "Stimmt ja gar nicht!" - das ist der wichtigste Widerspruch gegen all die alteingefahrenen Annahmen, die uns zu Opfern machen. Die anerzogene Angepasstheit, die uns als Frauen unser Verhalten darauf ausrichten lässt, möglichst bei niemandem in Ungnade zu fallen, ist ein Problem. Die Bitte an "die" Männer, uns Frauen möglichst rücksichtsvoll und allzeit mit vorausgreifender Vorsicht zu behandeln, betrachte ich als konsequenten Bestandteil desselben Musters und als Kehrseite dieser Medaille.

Sorry, aber eine "feministische" Haltung, die weiter lediglich auf dem permanenten Opferstatus von Frauen beharrt, ist nicht mein Feminismus. Mir greift diese Perspektive einfach zu kurz. Wie soll sich da jemals etwas verändern?

Edit: Wenn aus 20 Kommentaren fünf werden: Der "Zeilenjaeger" hat seine sämtlichen Kommentare gelöscht. Über die Motivation dazu kann ich nur spekulieren. Ich spekuliere, dass es daran liegt, dass ich mich nicht von seiner Meinung überzeugen ließ. Wem der Kommentarstrang "zerschossen" vorkommt - stimmt, er ist zerschossen. Leider verschwanden mit den Löschungen des "Zeilenjaegers" auch andere, hierarchisch untergeordnete Kommentare. Ich lasse meine eigenen Antworten darauf trotzdem stehen. Die aktuelle Diskussion drehte sich um die Geschehnisse am Kölner Hauptbahnhof und ihren Bezug zu diesem Ausgangsartikel.

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