Sturmflut
Ein Brief
„Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als wenn Eltern nicht an ihr Kind glauben, an seine Lebensfähigkeit, seine Art, die Dinge zu erledigen, seinen Stil. Und das ist es, was ich spüre.“

Das schrieb ich im Sommer 1997 in einem Brief an meinen Vater, den ich ihm niemals geschickt habe. Weiter schrieb ich:

„Ich hoffe, es beleidigt Dich nicht, wenn ich das so offen äußere. Möglicherweise bist Du sehr böse, vielleicht hältst Du mich für undankbar.“

Dieser Brief ist ein Relikt, aber er ist es auch wieder nicht. Sein Inhalt steht stellvertretend für ein Grundgefühl, das ich in meinem Leben immer hatte. Mit großer Klarheit habe ich schon damals erkannt, woran die Beziehung zu meinen Eltern krankte: An dem Gefühl, nicht als der Mensch geliebt und anerkannt zu werden, der ich nun einmal war. Nur ein paar Zeilen nach dieser deutlichen Feststellung taucht nämlich auch der Grund auf, der mich damals davon abhielt, den Brief in einen Umschlag zu stecken und abzuschicken: Die tief verwurzelte Angst vor meinem Vater, vor seinen Maßstäben, seinem Zorn und seiner Missgunst.

Wenn ich ihn heute lese, dann spüre ich die darin enthaltene Ambivalenz mit fast brutaler Deutlichkeit. Da ist der Streit für mich selbst, den ich eigentlich damals mit Vehemenz hatte führen wollen, und die Spur von Mut, zum eigenen Leben ja zu sagen und mich von den Vorstellungen der Eltern abzugrenzen. Aber dann, direkt danach ein verzweifeltes Zurückrudern, so wie ich es heute noch von mir kenne. Wann immer ich einen Schritt in die Richtung wage, mich selbst besser wahrzunehmen, meine Wünsche zu äußern und mein Recht auf So-Sein einzufordern, überfällt mich fast eine Panik und der Reflex, mich zu negieren, klein zu machen, mich zurückzuziehen und mich für meine Existenz zu entschuldigen.

„Möglicherweise bist Du sehr böse...“

Ich hatte allen Grund, das anzunehmen. Bis vor einigen Jahren kam ich nie über das Vaterbild hinweg, das ich mein Leben lang kannte. Mein Vater war eine all- und übermächtige, große, dunkle Person, wie ein Gewitter am Horizont, von dem man nie wusste, ob es herzieht und wann der Blitz einschlägt. Ich konnte ihn nur auf diese Weise wahrnehmen, weil ich im Gegenzug auch immer das kleine Mädchen geblieben war, das sich nichts sehnlicher wünschte als seine Liebe. Erst, als dieser Wunsch in mir starb, habe ich es geschafft, ihn zu entmystifizieren und ihn zu sehen als das, was er tatsächlich ist.

Seit ich beschlossen habe, ihn nicht mehr zu sehen, musste ich mir in unzähligen inneren Dialogen mindestens hundert Mal sagen: „Und wenn er wütend auf mich wird – was soll's! Was soll mir da schon passieren?“ Wie ein Satz aus dem Schulbuch, den man auswendig lernt, auch wenn man den Sinn noch nicht versteht.

Inzwischen habe ich erkannt und wirklich verstanden, dass weder sein Tun noch sein Lassen mir etwas anhaben können und dass ich auch morgen noch leben werde. Zugleich bin ich heute enorm erschüttert darüber, wie stark er war – wie stark er sich und in der Folge ich ihn gemacht habe. Mein Vater, der Charmeur. Der Alleswisser. Der Seelenverwandte (und ich die einzige, die ihn wirklich versteht...). Mein Vater, der große Herrscher, von dessen Laune alles Wohl und Weh abhing. Vor allem das Weh, so dass ich alles, was nicht all zu sehr wehtat, für gut halten musste. Dessen ausrutschende Hand in meinem Gesicht ich immer „verdient“ hatte.

Damals bettelte ich.

"Ich möchte so gern einmal ein „Du schaffst das schon!“ hören anstatt ein „Hast Du schon dies, hast Du schon das?“ Das ständige Sich-Versichern-Wollen, ob ich schon die Ziele erreicht habe, die Ihr von mir erreicht sehen wollt, ist das Gegenteil von Vertrauen. Und es fällt mir nicht leicht, damit umzugehen. Ich muss das aussprechen, denn es staut sich in mir an. Und Du hast gesagt, ich kann alles sagen.“

Was es so traurig macht, diese Zeilen noch einmal zu lesen ist die Tatsache, dass ich es kann. Ich sprach es eben nicht aus. Das zweimal gefaltete A4-Papier liegt hier vor mir anstatt in einer seiner Schubladen. Mein Vertrauen in sein Wohlwollen und in sein Versprechen, ich könne ihm alles sagen, war einfach nicht groß genug. Meine Angst vor ihm war größer, und wo Angst ist, hat Vertrauen keinen Platz.

Wenn ich das alles nochmals lese, wird mir klar: Der Schritt zur Seite, aus der Angst und der totenstarren Ehrfurcht heraus, ist mir gelungen. Ich werde mich nicht mehr entschuldigen dafür, so zu sein, wie ich bin. Vor ihm nicht, nicht vor anderen, aber vor allem nicht vor mir selbst.