Sturmflut
Mittwoch, 1. September 2010
Von allen Gedanken...
Thilo Sarrazin hat mal wieder den Mund aufgemacht, und deshalb ist er jetzt auch in aller Munde. In den Rezensionsforen werden ebenso fröhlich dieselben Keulen geschwungen wie in Funk, Fernsehen und Print: Befürworter gegen Ablehner, die "bösen Rassisten" gegen "ewigen Gutmenschen". Ich geb' zu, ich habe sein neuestes Machwerk nicht gelesen, weil es mich nicht interessiert. Die ganze Diskussion darum geht indes trotzdem irgendwie nicht an mir vorbei, und deshalb habe ich die eine oder andere Rezension und Auszüge überflogen.

Interessante oder neue Gedanken sind es nicht, die Herr Sarrazin der geneigten Öffentlichkeit zu bieten hat. Nicht einmal die bestreitbare These, die Deutschen schlitterten geradewegs auf das Aussterben zu, ist neu. Seit Jahren schon hört man derartiges Gejammer aus den unterschiedlichsten Lagern. Und ich denke mir: "Na und? Dann sollen sich die Deutschen doch abschaffen..." Selten ging mir etwas so am Allerwertesten vorbei. Wenn es dabei um das nörgelige, ewiggestrige Deutschland geht, als dessen Vertreter sich Sarrazin durch die Herausgabe seines Buches outet, dann bin ich um eine Abschaffung ganz und gar nicht traurig.

Dabei ist ja wirklich sensationell, was er uns da präsentiert! Dramatisch!! Nie vorher gehört!! Die Zusammenhänge, die uns Sarrazin in seinen Thesen nahebringt, sind wirklich revolutionär!! Deutschland werde durch Überfremdung gefährdet... Gähn! Menschen mit erwünschten Merkmalen sollten sich wieder mehr fortpflanzen... Gähn! Zur Begründung der Unterschiede zwischen uns und den anderen wird der gute alte Biologismus aus der Kiste gekramt... Gähn, gähn, gähn...!

Es ist doch bemerkenswert, dass ausgerechnet diejenigen, die am liebsten zur "guten" alten Zeit zurückkehren würden, sich auf die Unabänderlichkeit bestimmter Um- und Zustände berufen. Sei es, dass man die Frauen am liebsten wieder an Herd und Wiege haben will und sich prä-feministische Zustände zurückwünscht, sei es, dass man den im Kontext der Globalisierung wankenden Nationalstaat gern zurückhätte oder den guten alten Wirtschaftswunder-Wohlstand - immer sind es die angeblich "natürlichen" Gegebenheiten, die man wieder herstellen will. Auf die wird sich berufen, als sei die beschworene "Natürlichkeit" eine Art messbarer (und natürlich indiskutabler) Optimalzustand. Besonders betont wird bei solchen Rückwärts-Bestrebungen, dass die anderen eben einfach anders sind (egal, ob es sich dabei um Fremde, Frauen oder Dumme handelt).

Es ist wirklich einfach, ein paar Daten von woher auch immer hervorzukramen und auf dieser Grundlage dann über die bestehenden Zustände wahlweise zu jammern oder zu wettern. Man kann sich dabei auf jeden Fall einer breiten Zustimmung sicher sein (weswegen sich solches Gebaren auch Populismus nennt, schließlich ist es populär). Natürlich ist es leicht, über sogenannte Sozialschmarotzer herzuziehen, wie es Herr Sarrazin schon früher tat, weil das Bild des faulen Hartz-IV-Empfängers schon sorgfältig in den Medien genährt und gepflegt wurde (nicht zuletzt durch Deutschlands Boulevard-Blatt Nr. 1, das - nanü, Zufall? - mit Herrn Sarrazin schon vor Veröffentlichung des Buches auf Kuschelkurs war). Jetzt macht es der gute Thilo wieder genau so, nur dass jetzt das Ziel der schwarzäugige Nachbar mit den sechs sehr lebendigen Kindern ist.

Solche Hassbilder sind leicht bedient, dazu bedarf es keiner besonderen Kreativität. Man muss nur ein paar (durchaus existente) Klischees aufgreifen und sich einen Reim darauf machen, von dem man behauptet, er sei neu und nie zuvor gedacht. Wenn man dann noch hinzufügt, man spräche "unbequeme Wahrheiten" aus und sei sich darüber im Klaren gewesen, dass das nicht überall gut ankommen würde, kann man sich sicher sein, schnell eine Menge Leser auf seiner Seite zu haben. Ganz besonders diejenigen, die sich selbst als eher kritisch einstufen. Das ist kein besonderes Bravourstück.

Ich verstehe die Aufregung um dieses Buch wirklich nur zum Teil. Denn einer, der sich so vehement über die angebliche Dummheit der Bevölkerung auslässt und sich zugleich so offensichtlich an ein Publikum richtet, dass über seine ersten drei Thesen nicht hinausdenken wird, sondern schluckt, was ihm mundgerecht serviert wird, macht sich allein durch diese peinlich offensichtliche Strategie unglaubwürdig.

Einen besseren Vorschlag als die vermehrte Reproduktion der übriggebliebenen Intelligenz-Elite dieses ach so gefährdeten Landes hat er nicht zu bieten. "Die" Intelligenten - wer soll das sein, und wer bewertet das? Und dann - wer animiert, motiviert oder zwingt sie zur Reproduktion? Ich bin wirklich froh, dass Fortpflanzung inzwischen eine Frage der freien Entscheidung ist.

Ich schätze wirklich von allen Gedanken am meisten die interessanten, aber Monsieur Sarrazin hat auf diesem Feld wirklich nichts Neues zu bieten. Echte Gedankenanstöße liefert er nicht. Die Frage ist nicht, ob man für oder gegen Thilos Thesen ist. Die Frage ist eher, ob das Problem, das er schildert, tatsächlich vorhanden und relevant ist. Hat er uns noch Neuigkeiten zu diesem Themenfeld mitzuteilen, die nicht schon vor hundert Jahren gedacht wurden? Liefert er irgendwelche Aussagen, die fruchtbar und nützlich sind?

Ich denke, eher nicht. Ich werde das Buch leihen, sobald es die Bibliothek angeschafft hat (falls sie es denn anschafft), denn zur käuflichen Investition ist mir das sauer verdiente Geld auch nach den kurzen Einblicken schon zu schade. Falls ich auf wirklich interessante Gedanken stoße, werde ich darüber berichten. Aber ich bezweifle es. In der Zwischenzeit firmiert Sarrazin für mich als ein weiterer "Autor", der - irgendwo zwischen Schirrmacher und Herman eingekuschelt - ungefragt peinlichen Populismus absondert.

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