Sturmflut
Hold on.
In der Dämmerung schalten sich die Lampen ein, werfen zartoranges Licht über gepflasterte Bahnsteige. Signale glühen rot und grün vor tintenblauem, von scharfen, schwarzen Oberleitungen durchtrenntem Himmel.


Eine Frau steht auf dem Bahnsteig, unendlich müde, zerrissen, verkehrt. Im Herzen noch eine Ahnung vom Leben – eine Spur von Leichtigkeit und purer Existenz, die sich viel zu schnell verliert und wieder der Erschöpfung Platz macht. Das gelassene, leichte Gefühl rinnt aus ihr heraus wie aus einem leckgeschlagenen Tank, schnell und unaufhaltsam. Es hinterlässt Leere.

Ein gelbes Schild mit schwarzer Schrift warnt:

„Vorsicht! Schnelle Vorbeifahrten! Gekennzeichneten Bereich erst betreten, wenn Zug hält!“

Sie starrt hinüber zum Bahnsteig gegenüber, zu den anderen, die da auf einen anderen Zug warten wie Spiegelbilder, und fragt sich, was sie wohl denken. Ob deren Herzen auch so nah an den Gleisen stehen wie ihr eigenes, jenseits der weißen Linie, ganz am Rand.

Eine Durchfahrt. Der Zug ist wie ein Geschoss, er schiebt eine Wand aus oktobermilder Luft vor sich her, die ihr Haar zurückwirft. Sie denkt: „Ach, nur ein einziger Schritt, dann wäre es vorbei. Dunkel. Nichts. Erlösung. Endlich!“ Sie denkt es nur. Der Gedanke macht schwindlig.


Züge. Hinter dem windschnittig gewölbten, getönten Glas stehen Menschen, die Hebel bedienen und fürchten, dass jemand diesen plötzlichen Schritt tut. Personenschaden. Schädliche Personen. Beschädigte Personen. Im Führerstand und auf den Gleisen.

Tonnen und Tonnen rollender Masse. Sie kann nicht umhin, schaut sich die Front dieses Kolosses ganz genau an. Unterhalb der Glasscheibe eine Kupplung wie eine Ramme aus massivem Stahl, in gewachstes Tuch verpackt, so lange sie nicht gebraucht wird. Im gähnend schwarzen Raum darunter wie eine gigantische Pflugschar ein Gleisräumer. Ihr Körper wird in der Mitte zerschlagen von dieser unaufhaltsamen Masse. Wie eine Puppe ohne Gelenke. Der Kopf schlägt zurück, sie fällt, wird ins Gleisbett geschoben, bleibt zerschmettert liegen.

Das Bild: Der Zug steht. Auf den Schienen unter weißem Tuch der Körper, der Rest, bedeutungslos, ohne Würde. Ein Seelsorger führt den Lokführer am Arm. Die Fahrgäste ärgern sich über die Verzögerung.

Woher nimmt sie die Annahme, dass das schmerzlos sein würde? Dass es sie auslöscht, schnell, effektiv und spurlos? Sie weiß es nicht. Sie weiß, dass sie es nicht weiß. Sie spürt das. Wie erbärmlich, ein solcher Tod. Etwas, das man niemandem wünscht. Wieso dann sich selbst?

Es ist eine tägliche Entscheidung. Sie hat die Gewalt über ihre eigenen Schritte. Ruhe und Erlösung sind eine verheißungsvolle Illusion. Das einzige, das feststeht, ist das Leben im Hier und Jetzt. Die Erlösung liegt in ihr selbst, nicht auf den Gleisen, nicht unter dem Tuch. Die Erlösung liegt im Leben, nicht im Sterben.

Hold on.