Sturmflut
...und alle so: "Schwanz ab!"
Und wieder mal der Volkszorn...

Nachdem das Verschwinden des kleinen Mirco aus Grefrath jetzt aufgeklärt ist, trifft mich wieder einmal mit voller Wucht die Keule der tobenden Masse, obwohl ich doch eigentlich schon längst wissen müsste, dass das in solchen Fällen geschieht.

Ich bin einfach immer wieder erschüttert darüber, wie erbsenhirnig die Stimmen sind, die laut werden, wenn wieder mal ein Kind sein Leben lassen musste. Auf der News-Artikelseite eines Mailproviders fanden sich inzwischen 109 Seiten Kommentare zu dem Vorkommnis, und ich kam über zwölf nicht hinaus - mir wurde schlecht beim Lesen. An tumber Polemik sind die Beiträge (bis auf ganz wenige Ausnahmen) nicht zu überbieten, und ich habe einfach den Verdacht, dass differenziertes Denken bei den meisten Menschen nicht drin ist.

Kleine Auswahl:

"Für solch kranke Kreaturen sollte man wirklich über die Todesstrafe nachdenken."

"Schickt den täter nach China die wissen wie man mit solchen verbrechern umgeht."

"der gehört nicht hinter Gittern sondern auf den elektrischen Stuhl"

"Derjeniger der Leben nimmt hat kein Recht mehr auf Leben !!!!!!!!!!"

"Vorsicht- der nette Nachbar- kann ich nur sagen."

"Den sollte man am Schwanz aufhängen, bis der von alleine abfällt. Kein Mitleid mit diesem Verbrecher. Mein Mitgefühl gilt den Eltern und auch den Kindern dieses D.....acks !"

"Kinderschänder und Mörder haben hier Narrenfreiheit. Es wir Zeit das sich was ändert. "Tot den Kinderschändern" sie haben kein leben verdient!!!"

"Ein Aspekt bleibt bei allem wieder außen vor, nämlich, dass es sich wiederum um eine homosexuell motivierte Straftat handelt. Das war ja schon bei der Masse der im vergangenen Jahr bekannt gewordenen Mißbrauchsfälle der Fall."

Das geht seitenweise so weiter.

Ehrlich, mir macht das Angst. Seiten um Seiten dieses stumpfen, zornigen Geschwafels... In der schützenden Anonymität dieser Forenkommentare erlauben sich natürlich manche erst Recht die ganz große Klappe, aber trotzdem möchte ich solchen Menschen nicht auf der Straße begegnen. Ein wütender Mob mit intellektueller Begabung auf Boulevard-Zeitungs-Niveau - das ist, was sich in der großen Zahl dieser Kommentare niederschlägt.

Natürlich besteht Anlass zu Trauer und Wut angesichts der Tatsache, dass ein Zehnjähriger entführt, missbraucht und ermordet wird. Das ist schrecklich, es bleibt schrecklich, von welcher Seite man es auch beleuchtet.

Aber mich regt die Fehlannahme auf, unser Rechtssystem sei zu lasch. Man kann über Verhältnismäßigkeiten diskutieren und sollte es auch - z.B. im Vergleich zu materiellen Delikten. Aber es wird anscheinend grundsätzlich angenommen, die sogenannten Kinderschänder würden "übermorgen" wieder "laufengelassen".

Das leitet der besagte wütende Mob offenbar aus dem Umstand ab, dass solche Verbrechen wie das an Mirco immer wieder geschehen. Das kann für den einen dann nur an der zu laschen Justiz liegen, für den anderen liegt es an homosexuellen Neigungen.

Dass es an uns allen liegen könnte, an der Art, wie wir mit Sexualität, mit Macht, mit Erziehung umgehen und welchen Stellenwert Kinder in unserer Gesellschaft eigentlich wirklich haben, das interessiert nur diejenigen, die sich mit einfachen Erklärungen ohnehin nicht zufriedengeben.

Wie kann man glauben, so etwas könne "bei uns" nicht geschehen, wenn man zugleich selbst Sex zur Machtausübung und Erniedrigung benutzt?

Wie kann man glauben, eine solche Tat sei nur in Randgruppen möglich, wenn viele zugleich ohne mit der Wimper zu zucken täglich die eigenen Kinder physisch und psychisch schädigen?

Wie kann man meinen, in einer Gesellschaft, die noch immer die althergebrachte Machthierarchie "Männer - Frauen - Kinder" kennt, würde so etwas nicht passieren?

Wir leben in einer Gesellschaft, in der Menschen, insbesondere aber Männer, die unter Stress stehen, immer noch als Weicheier gelten, wenn sie ihre Probleme offen zugeben oder sogar über sie sprechen wollen. Es werden Erniedrigungen eher heruntergeschluckt, als dass man zugibt, verletzt zu sein.

Wenn dann jemand sich an einem Kind vergeht, ist das im Grunde nur die logische Konsequenz aus dem Zusammenspiel dieser Umstände. Und bevor jemand meint, ich wolle den Täter damit entschuldigen - das will ich ganz sicher nicht. Die letzte Entscheidung über unsere Handlungen treffen wir selbst, wir sind dafür verantwortlich.

Aber wir müssen uns nicht wundern, dass der "liebe Nachbar" sich "plötzlich" zu einem "Monster" entwickelt. Es geschieht weder plötzlich, noch ist das angebliche Monster etwas, das so weit von uns selbst entfernt ist.

In einzelnen Menschen kristallisiert sich nur die vollständige Lebensfeindlichkeit unserer Gesellschaft. Zwischenmenschliche Grausamkeiten werden so lange kleingeredet und ignoriert, bis sich die Auswirkungen Bahn brechen, psychische Wunden kompensiert werden, das absolute Machtvakuum mit Gewalt gegen andere ausgeglichen wird...

Dann aber ist das Geschrei groß. Dann fordern viele mit großem Geheul Todesstrafe, Kastration, lebenslange Haft, weil die einzige adäquate Antwort auf Gewalt für sie Gegengewalt lautet.

Eigentlich aber auch nur konsequent.