Sturmflut
Bleibt alles anders
Seit Dienstag bin ich wieder angemeldet im Fitness-Studio. Ich habe das alles schon mal gemacht, aber es ist Jahre her. Vergessen habe ich es doch nicht. Jetzt gibt es also wieder zweimal die Woche Kraftausdauertraining, und ich freue mich. Ich wollte eigentlich schwimmen. Vorher habe ich auch mal mit dem Gedanken gespielt, mit meiner inzwischen nicht mehr ganz so neuen Kollegin einmal wöchentlich zum Sport zu gehen. Aber die Motivation hielt sich doch irgendwie in Grenzen. Komisch, dass es die vielgeschmähte Mucki-Bude ist, die mir jetzt gerade den Spaß zurückbringt. Ich freue mich über Muskelkater und darüber, dass ich längst nicht so schwach abschneide, wie ich dachte und kriege auf dem Crosstrainer ein Runner's High ohne Knieschmerzen und Heuschnupfen.

Irgendwie ist alles anders. Ich muss an die Zeit denken, als ich das Fitnesstraining in meiner Uni-Stadt aufgab. Es war nach meiner ersten Ohren-OP, ich war schlapp von dem wochenlangen Herumliegen im Krankenhaus und fing nicht wieder an. Nach der zweiten OP stürzte ich in ein richtiges Loch, scheinbar grundlos, körperlich war ja alles wieder halbwegs in Ordnung. Trotzdem blieb ich die meiste Zeit in meiner Wohnung, tat kaum einen Schritt vor die Tür und blieb nachts wach bis zwei Uhr, um so todmüde zu sein, dass ich auch wirklich schlafen konnte. Die Depression mit ihren widerlichen, langen Fingern. So ganz hat sie mich seitdem nicht wieder verlassen. Bis jetzt.

Ich kann endlich mal wieder sagen, dass es mir richtig, richtig gut geht. Natürlich gibt es Hochs und Tiefs, aber jetzt habe ich zum ersten Mal das Gefühl, mich nicht mehr abquälen zu müssen, Dinge mühelos zu schaffen oder Freude an der Mühe zu haben, mich nicht überwinden zu müssen, angekommen zu sein.

In Gedanken ließ ich heute nachmittag, dösend auf dem Sofa liegend, ein bisschen Vergangenheit Revue passieren. Ich stelle fest, dass ich heute anderswo bin als zuvor. Nicht mehr in einsamen Wohnungen, nicht mehr unter Erwartungsdruck, nicht mehr diese verkrampfte, traurige Person, die bis mittags nicht aus dem Bett kam und manchmal kaum fähig war, sich überhaupt anzuziehen. Die Rechnungen ungeöffnet liegen ließ bis zur zweiten Mahnung. Die mit der Straßenbahn bis zur Endstation fuhr und dann wieder zurück, um die kahlen Wände des WG-Zimmers nicht sehen zu müssen.

Diese Zeiten sind vorbei, ich bin geborgen, ich bin zuhause und nicht allein, bin mir meiner selbst sicher, kann von der Arbeit meiner Hände und meines Kopfes endlich leben. Ich werte die neue Freude an der eigenen Kraft und der Bewegung als Ausdruck des Ankommens in meiner eigenen Haut, als Kongruent-Sein. Trotzdem ist das alles auch ein Teil von mir, dieses Verzerrtsein, die Zerrissenheit. Ich bin so stolz auf mich. Ich stehe wieder aufrecht, das alles hat mich nicht umgebracht - wider Erwarten.

Es ist ein bisschen, als müsste ich mich erinnern, um mich lebendig zu fühlen. Um komplett zu sein. Aber weh tut es nicht mehr. Es ist einfach.