Sturmflut
Samstag, 31. März 2012
Ein eigenes Zimmer
Wenn ich bei Herrn Damals drüben etwas lese über Doppelverdienerpärchen und Kleinfamilien und die Unterschiede in deren Lebensverhältnissen, dann weiß ich durchaus, wie ich das zu nehmen habe. Ich weiß, dass der, der dort schreibt, ein nachdenklicher Mensch ist, der keine Pauschalverurteilungen vornimmt.

Im Allgemeinen scheint es allerdings so zu sein, dass sich sehr viele Menschen weniger über das definieren, was sie leben und haben, sondern darüber, wie viel sie dafür investieren müssen, wie sehr sie leiden und was sie entbehren oder aufwenden müssen. Dieses Verhalten beobachte ich immer wieder insbesondere bei Familien. Mir begegnen Mütter, die sich (natürlich aber immer nur indirekt und durch die Blume) über ihren Mangel an Freiheiten beschweren und darüber, ständig verfügbar sein zu müssen. Gleichzeitig betonen sie, dass sie es für die Kinder, für die Familie selbstverständlich gern tun. Ebenso die Väter, die sich in ihrem Job aufreiben, damit den Kindern der Flötenunterricht bezahlt werden kann (oder vielleicht auch einfach nur Kleidung, Essen, Obdach – je nach Verdienstniveau) und der Frau das Privileg, zuhause zu bleiben und sich voll und ganz dem Wohle der Familie zu widmen. Und gleichzeitig betonen sie, dass sie es für die Kinder, für die Familie selbstverständlich gern tun. Oder beide arbeiten und haben dann natürlich noch viel mehr Stress, betonen aber, dass sie es für die Kinder, für die Familie selbstverständlich gern tun.

Herr Damals schrieb nun: “(...) man kommt zu leicht in so Neidgedanken rein, die keinen Sinn ergeben.“ Das finde ich zum Teil sogar nachvollziehbar, investiert doch ein Familienvater das sauer Verdiente anders als jemand, der keine Kinder hat. Klar kann man da neidisch sein, dass andere Menschen mehr Freizeit haben, nicht jeden Pfennig umdrehen müssen, anders konsumieren, anders mit Raum und Zeit umgehen können.

Was mich stört, ist diese Mentalität, die heute ein Bild von Kinderlosen als rücksichtslosen Karriereschweinen zeichnet, die fünfmal im Jahr in den Urlaub fahren, sich überteuerte Wohnungen leisten und auch sonst ziemlich konsumfixiert sind, allerdings überhaupt nicht bereit, sozial zu denken und zu handeln. Ich bin mir bewusst, dass das ein Dauerthema bei mir ist – das aber nicht zu Unrecht. Es stößt mir einfach sauer auf und ich möchte betonen, dass mir die selbstgerechte Larmoyanz mancher Eltern und Familien gewaltig auf den Geist geht. Ich finde sie einfach nur anstrengend und auch deshalb unfair, weil sie die Bevölkerung anhand von sehr fragwürdigen Kriterien in einen guten, zunkunftsorientierten und sozialen Teil (Eltern) und einen kalten, rücksichtslosen und gierigen Teil (DINKs, gewollt Kinderlose) spaltet.

Fragwürdig finde ich daran, dass es in der Hauptsache nicht darum zu gehen scheint, wie jemand tatsächlich lebt, sondern was er für seinen Lebensstandard an Energie, Zeit und Geld aufwenden muss. Niemand sagt, dass es einfach ist, eine Familie sowohl emotional als auch materiell zu versorgen, aber was manche Eltern betreiben, gleicht inzwischen mehr einem Leidenswettbewerb als einer aufrichtigen Bejahung ihres Lebensmodells. Im Gegenzug sollen dann die, die es leichter haben, sich gefälligst dafür schämen.

Ja, ich habe ein Zimmer für mich. Im Woolfschen Sinne ist das unabdingbar, und so empfinde ich es auch. Meine Schwägerin beneidete mich schon oft um dieses Zimmer, das ein lichtdurchfluteter, ruhiger Rückzugsraum unter dem Dach ist – mein unangetastetes Refugium, das ich einfach nötig habe, weil Privatsphäre nun einmal so wichtig ist wie die Luft zum Atmen (auch, wenn aus mir deshalb nicht zwangsläufig eine erfolgreiche Autorin wird...). Ich verstehe diesbezüglich den Neid meiner Schwägerin, denn es ist ein sauberer, wenig bitterer Neid, ähnlich wie der von Herrn Damals, den ich ihm auch nicht übel nehme. Aber soll ich mich meines eigenen Zimmers wegen schämen? Soll ich jetzt in einen Wettbewerb eintreten, in dem es darum geht, wie viel ich für dieses Zimmer getan habe, sprich, für den Umstand, dass mein Mann und ich zusammen in einem Haus leben können, das uns diese Möglichkeit des Rückzugs bietet? Ich denke ja gar nicht daran. Was soll das für eine merkwürdige Art sein, dieses Herausstellen der Tatsache, dass man das, was man besitzt, auch wirklich verdient hat und dass man es trotz aller Privilegien schwer hatte?

Da freue ich mich doch lieber über das, was mir gegeben ist. Das ist in meinen Augen definitiv die bessere Art, sich dem Leben gegenüber dankbar zu erweisen.

Es ist dieses Hadern vieler Familienväter und -mütter, das mich gallig macht. Es wirkt, als seien Kinder das größte Übel, das ihnen je zugestoßen sei, weil deren Existenz ihre Lebensumstände so derart schwierig macht, dass sie sich ständig benachteiligt fühlen. Es wird gejammert über Wäscheberge, die man zu bewältigen hat und über Kita-Erzieherinnen, die eigentlich von den wirklichen Bedürfnissen der Kinder keinen Schimmer haben (den hat natürlich nur eine leibliche Mutter), über die Leute, die sich an einer Supermarktkasse darüber aufregen, dass ihnen der Kinderwagen in die Hacken geschoben wird oder darüber, dass die Kinder laut sind. Manche Menschen gehen mit ihrer Elternschaft um, als sei diese per se schon ein Verdienst, eine Investition, die sie dazu berechtigt, sich anderweitig rücksichtslos zu verhalten. Und damit verhalten sie sich exakt so, wie sie es Menschen unterstellen, die dafür kein Verständnis aufbringen.

Es fällt mir schon auf, dass die sogenannten DINKs im Bezug auf die Dinge, die sie entbehren, viel weniger lamentieren als Familienmenschen. Nur selten hört man Jammern darüber, wie freudlos beispielsweise das eigene Leben doch sei ohne Kinder und wie wenig lebendig, wie sinn- oder ziellos, wie still das eigene Heim ohne das Getrappel kleiner Füße. Liegt es daran, dass Menschen ohne Kinder tatsächlich das asoziale, reiche, privilegierte Pack sind, als das sie hingestellt werden? Dass sie tatsächlich weniger investieren, weniger leiden, weniger entbehren? Ich glaube kaum. Ich glaube, dass es eine ganze Menge ganz normaler Leute gibt, die ihren Alltag auf vollkommen selbstverständliche Art bewältigen und einfach tun, was zu tun ist. Die wissen, dass sie Geld verdienen müssen, um zu leben, dass sie ihre Wäsche waschen müssen, um morgens etwas Sauberes zum Anziehen zu haben und dass sie Steuern zahlen müssen (und bisweilen nicht zu knapp), um ein Gesellschaftssystem mitzutragen, das auf dem Solidarprinzip beruht.

Die Yuppies, die DINKs, die Bessergestellten sind ein Klischee, auf das man halt gern mal zurückgreift, wenn man sich selbst vom Leben benachteiligt fühlt und damit nicht umgehen kann. Die riesigen Loftwohnungen, die teuren Loungemöbel, die klinische Reinheit, das Penthouse mit Panoramascheiben und Blick auf Elbe oder Rhein, vollgestopft mit edler HiFi-Technik, Rauchglastischen und dicken Teppichen, die schicken Flitzer (für Kindersitz und Kekskrümel ungeeignet) und die alle zwei Tage tätig werdende Reinemachfrau sind ein vollkommenes Zerrbild. Natürlich gibt es solche Menschen, und es mag nachvollziehbar sein, dass man sie beneidet – aus welchen Gründen auch immer. Aber einen repräsentativen Durchschnitt aller doppelt verdienenden, kinderlosen Arbeitnehmer dieses Landes und dieser Welt stellen diese Typen sicher nicht dar.

Warum also ist der Neid so groß und nachhaltig? Was hat man davon, sich ewig schlechter gestellt zu fühlen, wenn man Kinder hat? Zumal man doch irgendwie nach außen das Bild pflegt, dass sich für die glänzenden Kinderaugen, für die strahlende Zukunft, für diese Bereicherung des eigenen Lebens alle, alle Mühe lohnt?
Vielleicht, weil auch dieses Idealbild nicht der Realität entspricht. Vielleicht deshalb, weil man selbst an der Rolle der guten Mutter, des sorgenden Familienvaters bisweilen auch scheitert. Weil einem Kinder auf den Keks gehen können, weil man die redundanten Tätigkeiten Leid ist, weil man sich Privatsphäre wünscht oder mal drei Wochen Urlaub ohne die Kids, weil man Geschrei und immer wiederkehrende Unordnung nicht mehr erträgt, weil man sich auch manchmal fragt, wofür man das alles tut, obwohl man Kinder hat. Vielleicht deshalb, weil Kinder noch lange kein Garant für Sinnfindung im eigenen Leben sind. Vielleicht deshalb, weil längst nicht immer alles so ist wie in der Fruchtzwerge-Werbung. Vielleicht, weil man sich selbst ein Stück verliert und sich selbst gern wiederfände, aber nicht weiß, wie man's anstellen soll.

All das sind Regungen, die ich sehr menschlich finde. Unmenschlich finde ich es allerdings, die eigenen Defizite und Probleme in eine Projektion auf ein äußeres Feindbild umzuwandeln. Das Feindbild ist dann der Mensch, der anscheinend für all die Leiden und Entbehrungen, die man selbst um der Kinder Willen auf sich nimmt, kein Verständnis aufbringt und auch selbst augenscheinlich nicht leidet - welch ein Affront! Aber sind wir nicht im Endeffekt alle erwachsene, mündige Menschen, die mit ihren Entscheidungen umgehen und zu ihnen stehen können sollten, anstatt stumpf die Verantwortung für den eigenen, zugegebenermaßen oft auch schweren, Rucksack anderswohin zu schieben?

Vielleicht lässt die Gesellschaft, in der wir leben, die ganze Wahrheit einfach nicht zu. Vielleicht wird von Vätern und insbesondere Müttern immer noch implizit erwartet, dass sie in ihrer Rolle voll aufgehen und sie toll und erfüllend finden, auch wenn sie das – wie alles auf dieser Welt – eben längst nicht immer ist. Die Grundannahme „Ich leide, aber ich tu's gern!“ und der damit verbundene gehässige Neid auf alle, die nicht leiden und es auch nicht gern tun, erwächst möglicherweise aus dem Druck, immerzu perfekt zu sein und voll und ganz aufzugehen in der Rollenaufgabe. Dahinter steht der Mensch zurück, der tatsächlich auch ganz gern noch ein eigenes Leben hätte und sich nicht dauernd nur an den Erwartungen anderer ausrichten möchte, sondern ein Bedürfnis danach hat, als Person und nicht als Rolle gesehen zu werden, selbst wenn er es selbst nicht zulässt, dieses Bedürfnis zu spüren.

(Zwischenbemerkung am Rande: Man sollte sich im Übrigen fragen, was für Kinder dieses Theaterspiel erzeugt!)

Ich wünsche meiner Schwägerin, die Mutter dreier Kinder ist, von Herzen ein eigenes Zimmer. Den Raum dazu hätte sie, aber sie ist nicht in der Lage, das Bedürfnis weiterzuverfolgen (wenngleich sie es erkannt hat) und es umzusetzen. Möglicherweise schimpft es dann in ihrem Inneren, sie sei egoistisch und habe nicht das Recht, einen Platz für sich einzufordern oder gar Wirklichkeit werden zu lassen. Diese Stimmen sind es, die uns diese Schwierigkeiten eigentlich bescheren. Sie sind Relikte aus einer anderen Zeit, Gerüste, an die wir meinen uns klammern zu müssen, obwohl sie uns umklammern und uns die Luft zum atmen nehmen. Diese Gerüste sind es auch, die dafür sorgen, dass wir alle Menschen mit einem alternativen Lebensentwurf pauschal verurteilen, obwohl uns die Alternative durchaus manchmal lebenswert erscheint. Sie hindern uns daran, andere Wege zu denken und vor allem umzusetzen, und sie verbittern schließlich unser aller Leben.

Wer in seiner Lebenswirklichkeit zuhause ist, hat es nicht nötig, andere permanent zu beneiden und seine eigenen Leiden und Aufopferungen herauszustreichen, weil er sieht, was er bekommt, und das auch zu schätzen weiß. Ganz gleich, ob nun ich das bin, die sich über einen Abend mit Freunden vor dem Flachbildfernseher freut, oder ob das ein Vater ist, dem das Herz überläuft, weil seine Tochter ihm mit wehenden Haaren und strahlenden Augen zur Begrüßung entgegenfliegt.

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