Sturmflut
Das Fahrrad hat Kummer
Als Mädchen wurde ich zu meinem zwölften Geburtstag mit einem neuen Fahrrad beschenkt. Das war damals ein ziemlich drahtig-eckig aussehendes Modell von NSU mit pinkfarbenem Rahmen, weißem Kunststoffsattel und weißen Handgriffen und 5-Gang-Kettenschaltung.

Irgendwann im fortgeschrittenen Teenageralter wurde es mir zu bunt, ich nahm es vollständig auseinander und lackierte es in Moosgrün-Metallic. Das Prachtstück wurde mir eines Abends auf einem Schützenfest gestohlen und ward nicht mehr gesehen. Danach fuhr ich eine Weile auf dem alten Rad meiner Großmutter, das überhaupt keine Gangschaltung besaß, dafür aber wunderbar nostalgisch aussah, bis ich irgendwann, hinter meinen Brillengläsern blind im dichten Regen, mit voller Geschwindigkeit in das Heck eines parkenden alten Mercedes fuhr, was dem Auto eine Delle knapp oberhalb des Sterns auf der Kofferraumklappe einbrachte und meinem Omafahrrad eine gewaltig nach hinten verbogene Gabel.

Erst, als ich zum Studieren das zweite Mal umzog, stellte sich die Frage nach einem eigenen Fahrrad erneut. Was ich in der Zwischenzeit ohne gemacht habe, ist mir bis heute nicht so ganz klar, aber ich weiß, ich bin ungeheuer viel Straßenbahn gefahren. Auch ziemlich gern. Für die neue Stadt wollte ich dann aber doch ein neues Rad, und so kam la bicicletta für 250 Mark in meinen Besitz.



Sie war in ausgezeichnetem Zustand, alle Chromteile glänzten, der schwarze Lack auch, und sie passte von Anfang an zu mir. Eine echte Schönheit. Das war noch lange bevor die Nostalgiewelle aufkam. Heute fährt jedes zweite Mädchen in meiner Stadt mit einer nachgemachten Omafiets im Retro-Look durch die Gegend.



La bicicletta ist eine Gazelle, Baujahr rund 1983, und ein ziemliches Kuriosum. Sie hat vorn eine Gestängebremse mit Stempel (wie ich herausfand, auch ab und an mal salopp "Scheißeschieber" genannt), den klassischen schwarzen Rockschutz aus Moleskin am Hinterrad, einen geschlossenen Kettenkasten aus Moleskin, helle Bereifung und natürlich den schönen, halbrunden Bogen am Rahmen. Sie hat aber doch wieder einen Schnapp-Gepäckträger statt einen mit Spannriemen. Der Bequemlichkeit halber habe ich auch nach dem Verschleiß des ersten (Bruch der Feder) wieder auf einen Lepper Primus Ledersattel zurückgegriffen.


Als ich jüngst einen genaueren Blick auf sie warf, anstatt sie nur zweimal am Tag für je zwanzig Minuten einfach zu benutzen, stellte ich fest, dass Salz und Nässe meiner Madame Drahtesel sehr zugesetzt haben. Ich mache mir heftige Vorwürfe, wirklich wahr. Als ich noch in meiner Studienstadt wohnte, wäre es erforderlich gewesen, das Fahrrad jedes Mal in den Keller zu tragen, um es trocken zu halten, und ich war faul, und la bicicletta stand also draußen. Sie setzte Rost an, vor allem an den Chromteilen. Inzwischen hat sie ihre Herberge in unserer hochherrschaftlichen Remise (dem Fahrradschuppen) und steht eigentlich immer trocken. Außer, wenn sie vor dem Firmengebäude steht. Dann steht sie eben doch im Regen, oder im Schnee. Der März neigt sich dem Ende, aber der Winter will hier immer noch nicht weichen, und ich habe das Gefühl, dieses Jahr war ganz besonders viel Salz auf den Straßen. Salz in den Wunden meines wunderbaren Rades.

Sie ist irgendwie überall rostig. Am Rahmen, am Gepäckträger, am vorderen Schutzblech. Ganz besonders, dort, wo die verchromte Ziernase in das Schutzblech eingepasst ist.



Dort hat der Lack Blasen geworfen und hässliche, braun-bröselige Stellen bekommen. Auch an den Rändern des Schutzbleches, wo Dreck, Salz und Nässe besonders gern hängenbleiben, hat sie ganz arge Rostspuren. Das Metall ihrer ovalen Lampe ist leicht blind.



Am Sattelrohr und am hinteren Schutzblech hat lange und beharrlich ein umgehängtes Kabelschloss den Lack und einen Teil des hübschen, nostalgischen Aufklebers weggescheuert. Ihr Ständer lässt sich nur noch schwer bedienen. Wie kam das so weit? Wieso ist mir das nicht eher aufgefallen?


Ich habe mir den Kopf zerbrochen. So kann sie nicht bleiben. Das tut schon beim ansehen weh, und mein Fahrrad, das mich noch immer so treu, ohne Geklapper und Gequietsche durch Stadt und Landschaft trägt, hat Besseres verdient als diesen traurigen Zustand. Mal abgesehen davon, dass ich mir ein neues Rad nicht leisten kann, hänge ich mit meinem ganzen Herzen an la bicicletta. Also, was bleibt?


Ich dachte zuerst über den Austausch einiger Teile nach. Da mein Drahtesel allem Anschein nach ein Modell "Toer Populair" ist, das nach wie vor fabriziert wird, wären manche Teile vielleicht sogar zu haben. Aber ist sie dann noch original? War sie je original? Wer weiß. Zudem dürfte es äußerst schwierig sein, ein passendes vorderes Schutzblech mit einem Durchlass für die Stempelbremse zu finden. Der Fahrradhändler tat sich schon schwer damit, als ich das letzte Mal neue Bremsgummis haben wollte. Die Bremse umzurüsten auf eine Felgenbremse mit Bowdenzug kommt nicht in Frage. Denn dann passt der Lenker nicht mehr, der eine gerade Form hat und angeschweißte Teile, die den Bremshebel in Position halten. Daran herumzubasteln fände ich stillos. Aber vielleicht ist irgendwo ein neues Bremsgestänge zu finden, denn das ist nach den letzten Versuchen des betreffenden Fahrradhändlers reichlich verbogen. Der Mann hat ohnehin mehr verbaselt als heil gemacht und besitzt daher schon seit geraumer Zeit mein Vertrauen nicht mehr.

Dann schoss mir durch den Kopf, einzelne Teile oder gar den ganzen Rahmen neu zu lackieren. Das allerdings wäre, wenn man es denn richtig machen möchte, eine mühevolle Arbeit, während der zudem la bicicletta für mich als Transportmittel ausfiele. Ich besitze keinen Sandstrahler, keine Farbpistole und keine fachlichen Kenntnisse, um das wirklich professionell zu machen. Das Ergebnis sähe vermutlich eher peinlich aus, ähnlich wie bei der schließlich metallic-moosgrünen NSU, die später unter dem Tretlager zu blättern begann und dann doch wieder einen Hauch Pink trug. Womöglich produzierte ich auch eine hässliche Farbnase nach der anderen in Ermangelung eines Lackierzeltes, in dem ich ausgiebig herumnebeln könnte. Außerdem gingen bei einer komplett neuen Lackierung leider, leider die hübschen Aufkleber und Verzierungen in Form goldener Linien verloren, und das soll nicht. Die Gazelle wäre nicht mehr die Gazelle. Nicht so richtig.

Ich freunde mich jetzt so langsam mit einer Art Zwischenlösung an. Dem Rost werde ich bei einsetzender besserer Witterung mit Fertan zuleibe rücken, was dann einen schwarzen Belag anstelle des Rostes hinterlassen und hoffentlich neuem vorbeugen sollte. Dann wird nach Möglichkeit klar lackiert. Inzwischen sollen sämtliche Chromteile eine ordentliche Reinigung und Politur erhalten, die Aufkleber kommen vom Rockschutz herunter und ich werde meine alte Dame mit einem neuen Ständer und neuen Reifenmänteln beschenken. Für Ideen, Anregungen und Erfahrungsberichte bin ich alldieweil stets offen.