Selbst-Findung
Am 13. Apr 2013 im Topic 'Tiefseetauchen'
Immer mal wieder stolpere ich über den Umstand, dass der englische Begriff "self-conscious" eine erheblich breitere Palette an Bedeutungen abdeckt als das deutsche "selbstbewusst". Verlegenheit, Gehemmtheit, Befangenheit, die aus dem Bewusstsein über das eigene Selbst erwächst, das ist ein spannendes Phänomen. Den Fokus auf die eigene Außenwirkung zu setzen, hat also bei weitem nicht nur positive Aspekte und wenig mit dem zu tun, was wir mit selbstbewusstem Auftreten verbinden. Bei uns hat das Wort "Selbstbewusstsein" eher schon manchmal das Image des Übertriebenen, der Selbstüberschätzung und einer gewissen, daraus erwachsenden ungesunden Ich-Fixierung.
Das schoss mir durch den Kopf, als ich heute eine Dokumentation im Fernsehen sah, in der mehrere in ihrer Lebensmitte befindliche französische Frauen zu Wort kamen. Auf den ersten Blick war ich von ihnen allen fasziniert. Sie wirkten authentisch und bei sich, in weit größerem Ausmaß elegant und feminin, als das bei deutschen Frauen so den Anschein hat. So mit 40, 50 Jahren auszusehen und eine solche Ausstrahlung zu besitzen, halte ich für etwas Besonderes. Dann aber kippte mein Bild. Hinter dem strahlenden Lachen und der gepflegten Erscheinung lagen Berge und Berge von Selbstzweifeln, bis hin zur Verzweiflung. Im Laufe der Sendung machte sich in mir ein tiefes Mitgefühl breit für diese Frauen, weil ihre innerliche Zerrissenheit so deutlich hervorkam. Am deutlichsten bei der hübschen dunkelhaarigen Yasmina, die sich scheute, ein Medikament gegen ein neuerliches Aufbrechen ihrer Krebserkrankung zu nehmen, weil sie befürchtete, dass es sie dick machen und sie in der Folge ihren Lebensgefährten verlieren würde. Zwei Jahre waren die beiden zusammen, sie wohnte in seiner Wohnung, und sie, die eingangs so selbstbewusst wirkte, war eher, was man "self-conscious" nennen würde. Befangen sogar, alles erforderliche für die eigene Gesundheit zu tun, weil ihr Leben, das Heil ihrer Seele ganz deutlich von der Präsenz Thierrys in ihrem Leben abhing.
Gemeinsam haben die portraitierten Frauen, dass sie sich, in der Mitte ihres Lebens stehend, neu definieren wollen. Josette schwört mit großer Heftigkeit, niemals wieder einen Brotjob machen zu wollen. Yasmina sucht neue Möglichkeiten in ihren kreativen Illustrationen. Paule macht einen Lehrgang als Mediatorin. Sie alle resümieren über eingeschlagene Laufbahnen, über ihre Lebenswege, ihre Kinder und über Sinnfindung, Sinnstiftung. Eine von ihnen sagt: "Es ist so, als hätten die vergangenen zwanzig Jahre keinen Wert gehabt. Aber es muss doch irgendeinen Sinn im Leben geben!" Und Josette sagt: "Wenn Du nicht weißt, wofür Du geboren wurdest, hat Dein Leben keinen Sinn!"
Sinnfindung und Selbstfindung insbesondere von Frauen haben ja oft diesen Anstrich von Töpferkurs, von Midlife-Crisis und bisweilen auch den eines puren Luxusproblems von Frauen, die es sich leisten können, nichts zu müssen. Aber ich komme da gedanklich doch wieder auf Yasminas Schicksal zurück, das mich sehr erschüttert hat. Nicht allein die Tatsache, dass sie an Krebs erkrankte ist es, die mich da berührt, sondern der Umstand, dass sie sich so zwanghaft einer weiterführenden Behandlung verweigert. "Man muss sich pflegen, man muss auf sich achten, die Kleider, die Haare, die Atmung...", erzählt sie in die Kamera, während sie in einem Geschäft Rock und Bluse anprobiert. Thierry würde sie verlassen, wenn sie dicker wäre. Das glaubt sie. Yasmina achtet auf sich. Alles an ihr sieht gut aus. Es ist der leidende Zug um ihren Mund, der mich berührt. Den kann sie nicht wegpflegen. Sie sieht so aus, als wolle sie jeden Moment in bittere, heiße Tränen ausbrechen, diese aber mit aller ihr zur Verfügung stehenden Macht zurückhalten. Zu groß ist ihre Angst, zu entbehren, was sie definiert: den Mann an ihrer Seite. Größer noch, als die Angst, am Krebs zu sterben. Thierry indes bleibt bei all dem bemerkenswert unberührt. Als Yasmina 50 wird, hat Thierry sie verlassen. "Ich habe alles verloren!", sagt sie, "Mein Zuhause, meinen Mann, die Liebe!" Und sie lächelt.
Sie ist so "self-conscious". In der Hoffnung, dass sie alles an sich perfekt machen kann, so perfekt, dass sie jemanden findet oder hält, der ihr Leben definiert, ihr einen Rahmen gibt, sie begleitet, ihr ein Zuhause gibt. Mich erschreckt es, und ich erkenne ein wenig davon in mir wieder. Ganz ähnlich wie bei Paule, die ihren Beruf als Anwältin an den Nagel hängte, weil sie spürte, dass nicht einmal der Abschluss ihres Jurastudiums ihr gehörte, sondern ihrer Mutter, die damals - so empfand sie es - für sie entschieden hatte. Jetzt weiß sie nicht mehr, was sie machen soll und was sie näher zu sich selbst bringen könnte.
Wann sucht man sich selbst, wann hofft man, sich selbst zu finden? Wenn man sich selbst nie erkannt hat, sich selbst nie fühlen durfte oder sich unterwegs im Laufe des Lebens verloren hat? Wenn man Wege eingeschlagen hat, die man eigentlich nicht selbst gehen wollte? Wenn man den Sinn verloren hat? Irgendwie war allen diesen Frauen gemein, dass sie vage spürten, sich selbst verloren oder sich von sich selbst entfremdet zu haben. Das ist ein Gefühl, das ich nur zu gut kenne. "Self-consious" zu sein bedeutet dann in dem Zusammenhang im Grunde, dass man auf der Suche ist nach der Person, die man selbst eigentlich ist, sie zu entdecken aber nicht so recht wagt. Was man wird, orientiert sich an den Erwartungen anderer und zu einem ganz erheblichen Teil an der großen, inneren Not, die man spürt, die man aber nicht anzuerkennen und auszudrücken vermag. Bei Yasmina war es eine Kindheit und Jugend mit gewalttätigem Vater und Stiefvater, die sie letztlich davon abhielt, schwach und angreifbar (krank!) sein zu wollen in Thierrys Gegenwart. Ich kann es gut verstehen, dass Thierry diese Beziehung nicht weiterführen wollte. Ein anderer Mensch kann für den Selbstzerstörungsdrang seines Partners nicht die Verantwortung tragen, das ist zuviel der Last. Auch das kenne ich aus eigener Erfahrung.
Um wirklich zu seinem Selbst zu finden und dem eigenen Leben einen Sinn zu geben, braucht es eine Menge Mut und Kraft. Sich selbst zu erkennen in dem ganzen Ausmaß der Not und Angst in der eigenen Geschichte, der Fehler, die man in sich trägt und der Chancen, die man verpasst hat, und schließlich doch in den Spiegel schauen zu können und sich nicht verbiegen und übertünchen zu wollen, das ist eine große Kunst. Belächelt oder nicht, Selbstfindung ist existenziell und geht letztlich über den Seidenmalkurs einer Empty-Nestlerin hinaus, der ja nur ein Symptom ist. Es ist das Forschen darüber, was man selbst braucht und wer man selbst ist, was einem jenseits aller vermeintlichen Sachzwänge Freude bereitet, was einen motiviert und brennen lässt. Wer sich seiner selbst wirklich bewusst ist, kann dem Leben eine Richtung geben. Aber alle portraitierten Frauen litten unter der großen Fremdbestimmung in ihrem Leben, seien es nun finanzielle Zwänge, seien es gesellschaftliche Vorgaben darüber, wie eine Frau zu leben hat, seien es Ehepartner, um derentwillen man zu viel toleriert hat, sei es die Selbstaufgabe für die Kinder. Aus diesem Korsett erwächst ein unbestimmter Hunger, die noch zur Verfügung stehende Lebenszeit anders zu füllen und sich selbst das Ruder zurück in die Hand zu geben.
Am Wochenende waren wir zu Besuch bei Freundin S. in Halle an der Saale. Wir verstanden uns prächtig und haben zwei ganz wunderbare Tage miteinander verbracht. Aber ich erinnere mich daran, wie in einem beiläufigen Satz etwas auftauchte, das mich stutzig machte. Aus einem Dialog zwischen S. und ihrem Lebensgefährten J. schien auf, dass S. einmal geäußert haben musste, sich nach dem "wilden Leben" zu sehnen, wie sie es ausdrückte. Mehr "Punk" wolle sie sein. Es gibt wohl kaum einen Menschen in meinem Umfeld, der definitiv weniger "Punk" ist als S.. Sie ist zuvorkommend, bisweilen sogar vorauseilend gehorsam, mit den Gedanken immer bei den Bedürfnissen anderer (sogar dann, wenn diese sie gar nicht äußern) - daran hatte sich auch jetzt nichts geändert. Ich weiß, woher das rührt. Ich weiß, wie sie aufgewachsen ist und dass sie es nur schwer erträgt, den Fokus weg von den anderen auf sich selbst zu richten. Trotzdem ist dann da immer wieder dieser subtile Wunsch nach dem "Wilden", der in ihr aufflackert. Ich weiß noch, wie sie auf der Hochzeit von A., auf der sie Trauzeugin war, in einem bodenlangen, knallroten Satinkleid erschien. Nicht, dass ihr das nicht gestanden hätte, aber sie ist in ihrem Alltag ganz anders, trägt höchstens gedämpfte Farben und eher konservative Schnitte, schminkt sich wenig bis gar nicht. Das rote Kleid ist für mich ein Sinnbild ihres Wunsches nach mehr Authentizität und weniger Vereinnahmung ihres Selbst durch andere. Vielleicht auch danach, endlich einmal aufzufallen und gesehen zu werden, nicht als Dienstleisterin und Quelle für andere, sondern als Person. Ich wünsche es ihr, das wilde Leben. Da schimmert er auf, dieser Hunger, und auch wenn aus meiner Hemdblusen tragenden Freundin S. wahrscheinlich niemals ein Punk wird (zum Glück, möchte ich meinen), hoffe ich für sie, dass sie es eines Tages verstehen wird, aus eigener Kraft diesen Hunger zu stillen.
Selbstfindung hat nichts mit Egoismus zu tun. Sie ist das logische Resultat der Annahme, dass das eigene Leben begrenzt und einzig ist. Daraus erwächst die Verpflichtung gegen sich selbst, herauszufinden, wer man ist und zu erfüllen, was man sich schuldig ist. Vielleicht ist das ein lebenslanger Prozess. Ich stehe gerade selbst wieder vor einer Kreuzung, an der es darum geht, welchen Weg ich einschlage und ob es mir gelingt, eine Balance herzustellen aus dieser Selbstverpflichtung und den Notwendigkeiten des Lebens. Ich finde es schwierig, den Blick abzuwenden von vermeintlichen Zwängen und hin zum Wollen. Würde es mir wirklich etwas ausmachen, wieder die Richtung zu wechseln und mich damit noch weiter von verinnerlichten Erwartungen (insbesondere der eigenen Eltern) zu entfernen? Würde es mir etwas ausmachen, zeitweise mit weniger Geld auskommen zu müssen, während ich Neues lerne und meine Zeit anders aufwende? Ich glaube nicht. Früheren Zeiten habe ich voraus, dass ich mich inzwischen besser kenne, meinem Selbst näher bin als noch vor einigen Jahren, und dass ich weiß, niemand kann mir das nehmen.
Was daraus erwächst, ist Selbstvertrauen. Ich mag das Wort "confidence". Es klingt erdig, warm und sicher.
Das schoss mir durch den Kopf, als ich heute eine Dokumentation im Fernsehen sah, in der mehrere in ihrer Lebensmitte befindliche französische Frauen zu Wort kamen. Auf den ersten Blick war ich von ihnen allen fasziniert. Sie wirkten authentisch und bei sich, in weit größerem Ausmaß elegant und feminin, als das bei deutschen Frauen so den Anschein hat. So mit 40, 50 Jahren auszusehen und eine solche Ausstrahlung zu besitzen, halte ich für etwas Besonderes. Dann aber kippte mein Bild. Hinter dem strahlenden Lachen und der gepflegten Erscheinung lagen Berge und Berge von Selbstzweifeln, bis hin zur Verzweiflung. Im Laufe der Sendung machte sich in mir ein tiefes Mitgefühl breit für diese Frauen, weil ihre innerliche Zerrissenheit so deutlich hervorkam. Am deutlichsten bei der hübschen dunkelhaarigen Yasmina, die sich scheute, ein Medikament gegen ein neuerliches Aufbrechen ihrer Krebserkrankung zu nehmen, weil sie befürchtete, dass es sie dick machen und sie in der Folge ihren Lebensgefährten verlieren würde. Zwei Jahre waren die beiden zusammen, sie wohnte in seiner Wohnung, und sie, die eingangs so selbstbewusst wirkte, war eher, was man "self-conscious" nennen würde. Befangen sogar, alles erforderliche für die eigene Gesundheit zu tun, weil ihr Leben, das Heil ihrer Seele ganz deutlich von der Präsenz Thierrys in ihrem Leben abhing.
Gemeinsam haben die portraitierten Frauen, dass sie sich, in der Mitte ihres Lebens stehend, neu definieren wollen. Josette schwört mit großer Heftigkeit, niemals wieder einen Brotjob machen zu wollen. Yasmina sucht neue Möglichkeiten in ihren kreativen Illustrationen. Paule macht einen Lehrgang als Mediatorin. Sie alle resümieren über eingeschlagene Laufbahnen, über ihre Lebenswege, ihre Kinder und über Sinnfindung, Sinnstiftung. Eine von ihnen sagt: "Es ist so, als hätten die vergangenen zwanzig Jahre keinen Wert gehabt. Aber es muss doch irgendeinen Sinn im Leben geben!" Und Josette sagt: "Wenn Du nicht weißt, wofür Du geboren wurdest, hat Dein Leben keinen Sinn!"
Sinnfindung und Selbstfindung insbesondere von Frauen haben ja oft diesen Anstrich von Töpferkurs, von Midlife-Crisis und bisweilen auch den eines puren Luxusproblems von Frauen, die es sich leisten können, nichts zu müssen. Aber ich komme da gedanklich doch wieder auf Yasminas Schicksal zurück, das mich sehr erschüttert hat. Nicht allein die Tatsache, dass sie an Krebs erkrankte ist es, die mich da berührt, sondern der Umstand, dass sie sich so zwanghaft einer weiterführenden Behandlung verweigert. "Man muss sich pflegen, man muss auf sich achten, die Kleider, die Haare, die Atmung...", erzählt sie in die Kamera, während sie in einem Geschäft Rock und Bluse anprobiert. Thierry würde sie verlassen, wenn sie dicker wäre. Das glaubt sie. Yasmina achtet auf sich. Alles an ihr sieht gut aus. Es ist der leidende Zug um ihren Mund, der mich berührt. Den kann sie nicht wegpflegen. Sie sieht so aus, als wolle sie jeden Moment in bittere, heiße Tränen ausbrechen, diese aber mit aller ihr zur Verfügung stehenden Macht zurückhalten. Zu groß ist ihre Angst, zu entbehren, was sie definiert: den Mann an ihrer Seite. Größer noch, als die Angst, am Krebs zu sterben. Thierry indes bleibt bei all dem bemerkenswert unberührt. Als Yasmina 50 wird, hat Thierry sie verlassen. "Ich habe alles verloren!", sagt sie, "Mein Zuhause, meinen Mann, die Liebe!" Und sie lächelt.
Sie ist so "self-conscious". In der Hoffnung, dass sie alles an sich perfekt machen kann, so perfekt, dass sie jemanden findet oder hält, der ihr Leben definiert, ihr einen Rahmen gibt, sie begleitet, ihr ein Zuhause gibt. Mich erschreckt es, und ich erkenne ein wenig davon in mir wieder. Ganz ähnlich wie bei Paule, die ihren Beruf als Anwältin an den Nagel hängte, weil sie spürte, dass nicht einmal der Abschluss ihres Jurastudiums ihr gehörte, sondern ihrer Mutter, die damals - so empfand sie es - für sie entschieden hatte. Jetzt weiß sie nicht mehr, was sie machen soll und was sie näher zu sich selbst bringen könnte.
Wann sucht man sich selbst, wann hofft man, sich selbst zu finden? Wenn man sich selbst nie erkannt hat, sich selbst nie fühlen durfte oder sich unterwegs im Laufe des Lebens verloren hat? Wenn man Wege eingeschlagen hat, die man eigentlich nicht selbst gehen wollte? Wenn man den Sinn verloren hat? Irgendwie war allen diesen Frauen gemein, dass sie vage spürten, sich selbst verloren oder sich von sich selbst entfremdet zu haben. Das ist ein Gefühl, das ich nur zu gut kenne. "Self-consious" zu sein bedeutet dann in dem Zusammenhang im Grunde, dass man auf der Suche ist nach der Person, die man selbst eigentlich ist, sie zu entdecken aber nicht so recht wagt. Was man wird, orientiert sich an den Erwartungen anderer und zu einem ganz erheblichen Teil an der großen, inneren Not, die man spürt, die man aber nicht anzuerkennen und auszudrücken vermag. Bei Yasmina war es eine Kindheit und Jugend mit gewalttätigem Vater und Stiefvater, die sie letztlich davon abhielt, schwach und angreifbar (krank!) sein zu wollen in Thierrys Gegenwart. Ich kann es gut verstehen, dass Thierry diese Beziehung nicht weiterführen wollte. Ein anderer Mensch kann für den Selbstzerstörungsdrang seines Partners nicht die Verantwortung tragen, das ist zuviel der Last. Auch das kenne ich aus eigener Erfahrung.
Um wirklich zu seinem Selbst zu finden und dem eigenen Leben einen Sinn zu geben, braucht es eine Menge Mut und Kraft. Sich selbst zu erkennen in dem ganzen Ausmaß der Not und Angst in der eigenen Geschichte, der Fehler, die man in sich trägt und der Chancen, die man verpasst hat, und schließlich doch in den Spiegel schauen zu können und sich nicht verbiegen und übertünchen zu wollen, das ist eine große Kunst. Belächelt oder nicht, Selbstfindung ist existenziell und geht letztlich über den Seidenmalkurs einer Empty-Nestlerin hinaus, der ja nur ein Symptom ist. Es ist das Forschen darüber, was man selbst braucht und wer man selbst ist, was einem jenseits aller vermeintlichen Sachzwänge Freude bereitet, was einen motiviert und brennen lässt. Wer sich seiner selbst wirklich bewusst ist, kann dem Leben eine Richtung geben. Aber alle portraitierten Frauen litten unter der großen Fremdbestimmung in ihrem Leben, seien es nun finanzielle Zwänge, seien es gesellschaftliche Vorgaben darüber, wie eine Frau zu leben hat, seien es Ehepartner, um derentwillen man zu viel toleriert hat, sei es die Selbstaufgabe für die Kinder. Aus diesem Korsett erwächst ein unbestimmter Hunger, die noch zur Verfügung stehende Lebenszeit anders zu füllen und sich selbst das Ruder zurück in die Hand zu geben.
Am Wochenende waren wir zu Besuch bei Freundin S. in Halle an der Saale. Wir verstanden uns prächtig und haben zwei ganz wunderbare Tage miteinander verbracht. Aber ich erinnere mich daran, wie in einem beiläufigen Satz etwas auftauchte, das mich stutzig machte. Aus einem Dialog zwischen S. und ihrem Lebensgefährten J. schien auf, dass S. einmal geäußert haben musste, sich nach dem "wilden Leben" zu sehnen, wie sie es ausdrückte. Mehr "Punk" wolle sie sein. Es gibt wohl kaum einen Menschen in meinem Umfeld, der definitiv weniger "Punk" ist als S.. Sie ist zuvorkommend, bisweilen sogar vorauseilend gehorsam, mit den Gedanken immer bei den Bedürfnissen anderer (sogar dann, wenn diese sie gar nicht äußern) - daran hatte sich auch jetzt nichts geändert. Ich weiß, woher das rührt. Ich weiß, wie sie aufgewachsen ist und dass sie es nur schwer erträgt, den Fokus weg von den anderen auf sich selbst zu richten. Trotzdem ist dann da immer wieder dieser subtile Wunsch nach dem "Wilden", der in ihr aufflackert. Ich weiß noch, wie sie auf der Hochzeit von A., auf der sie Trauzeugin war, in einem bodenlangen, knallroten Satinkleid erschien. Nicht, dass ihr das nicht gestanden hätte, aber sie ist in ihrem Alltag ganz anders, trägt höchstens gedämpfte Farben und eher konservative Schnitte, schminkt sich wenig bis gar nicht. Das rote Kleid ist für mich ein Sinnbild ihres Wunsches nach mehr Authentizität und weniger Vereinnahmung ihres Selbst durch andere. Vielleicht auch danach, endlich einmal aufzufallen und gesehen zu werden, nicht als Dienstleisterin und Quelle für andere, sondern als Person. Ich wünsche es ihr, das wilde Leben. Da schimmert er auf, dieser Hunger, und auch wenn aus meiner Hemdblusen tragenden Freundin S. wahrscheinlich niemals ein Punk wird (zum Glück, möchte ich meinen), hoffe ich für sie, dass sie es eines Tages verstehen wird, aus eigener Kraft diesen Hunger zu stillen.
Selbstfindung hat nichts mit Egoismus zu tun. Sie ist das logische Resultat der Annahme, dass das eigene Leben begrenzt und einzig ist. Daraus erwächst die Verpflichtung gegen sich selbst, herauszufinden, wer man ist und zu erfüllen, was man sich schuldig ist. Vielleicht ist das ein lebenslanger Prozess. Ich stehe gerade selbst wieder vor einer Kreuzung, an der es darum geht, welchen Weg ich einschlage und ob es mir gelingt, eine Balance herzustellen aus dieser Selbstverpflichtung und den Notwendigkeiten des Lebens. Ich finde es schwierig, den Blick abzuwenden von vermeintlichen Zwängen und hin zum Wollen. Würde es mir wirklich etwas ausmachen, wieder die Richtung zu wechseln und mich damit noch weiter von verinnerlichten Erwartungen (insbesondere der eigenen Eltern) zu entfernen? Würde es mir etwas ausmachen, zeitweise mit weniger Geld auskommen zu müssen, während ich Neues lerne und meine Zeit anders aufwende? Ich glaube nicht. Früheren Zeiten habe ich voraus, dass ich mich inzwischen besser kenne, meinem Selbst näher bin als noch vor einigen Jahren, und dass ich weiß, niemand kann mir das nehmen.
Was daraus erwächst, ist Selbstvertrauen. Ich mag das Wort "confidence". Es klingt erdig, warm und sicher.