Geschichte in Sepia
Am 10. Mai 2013 im Topic 'Hoch- und Niedrigwasser'
Einige Zeit, nachdem meine Großmutter gestorben war, gelangten ihre alten Fotos, Briefe und noch einige andere Kleinigkeiten wie Lebensmittelkarten und Pässe in meine Hände. Der Rest der Familie interessiert sich kaum dafür. All das befindet sich also jetzt in zwei Pappkartons auf meinem Dachboden, und ab und an hole ich sie herunter. Angesichts der Tatsache, dass sie 92 Jahre alt wurde, wirkt das auf mich immer wenig. Andererseits sind es wirklich viele Fotos, wenn man bedenkt, dass die Menschen vor siebzig, achtzig, hundert Jahren längst nicht so viel und nicht im Vorbeigehen fotografierten. Mir fällt auf, wie wenig ich eigentlich vom Leben meiner Großmutter vor meiner eigenen Existenz weiß. Dass es nicht einfach war, so viel weiß ich. Durch die Bilder zu blättern ist wie eine Zeitreise. Manche berühren mich besonders. Manche werfen Fragen auf, manche - näher an meiner eigenen Zeit - kann ich besser einordnen, weil ich die Geschichten dazu kenne.
Zum Beispiel ist da auf so vielen Bildern eine Frau mit rauhem, irgendwie aber gütigem Gesicht und strenger Frisur, meist in derbem, dunklem Rock und Schürze, kräftig, mit dicken Fingern. Das ist meine Urgroßmutter, die Mutter meines Großvaters, den ich selbst nie kennen gelernt habe. Oft ist sie gemeinsam mit ihrer Schwiegertochter, meiner Großmutter zu sehen - ohne die im Krieg befindlichen Männer. Jemand im Bekanntenkreis oder der Familie hatte offenbar schon damals die Möglichkeit, Fotografien zu machen, und so sieht man die Frauen nicht nur zusammen auf einem sorgsam arrangierten Atelierbild - die jüngere, die ältere und meine vielleicht zwei Jahre alte Tante. Sondern man sieht sie auch zusammen im Hof stehen, oder auf einem lässigen wirkenden Gruppenfoto, auf dem sich meine Urgroßmutter beinahe mädchenhaft an ihre Nachbarin lehnt, unter Frühlingsbäumen. Es gibt sogar noch ein älteres Bild, dessen Oberfläche silbrig glänzt, wenn man sie gegen das Licht kippt. Es zeigt meine Urgroßeltern als junge Leute mit ihren beiden Kindern.
Während ich von der anderen Seite, also aus dem Elternhaus meines Vaters beinahe keine Bilder habe, herrscht hier Fülle. Meine Vorfahren dort so sitzen zu sehen, rührt mich auf seltsame Weise und schürt in mir den Wunsch, durch das Bild hindurch zu reichen und herauszufinden, wer sie waren.
Da sind auch Bilder von einem kleinen Wicht mit Matrosenmütze vor einem Ziehbrunnen, der einen gefleckten Hund auf dem Schoß hält. Aus ihm sollte später einmal der Schmied werden, den dann die Linse der Kamera einfing, wie er den Hinterfuß eines Pferdes festhält.
Oder auch, wie er im Sonntagsanzug mit seinen Schwägern auf der Wiese liegt, entspannt, mit einer gewissen Flegelhaftigkeit. Auf dem Rad, über die Schulter zurückschauend. Und schließlich neben meiner Großmutter, mit weißer Fliege, kühner Welle im Haar und dem Zylinder in der Hand, bei seiner Hochzeit. Wir haben die gleichen Ohren.
Zu anderen Bildern habe ich nicht die geringste Erklärung. Da ist eine ganze Serie kleinformatiger Fotos mit gewelltem Rand, die eine Beerdigung zeigen. Der Verstorbene muss wohl nicht eben unbedeutend gewesen sein, denn der Volksauflauf zu seinem Begräbnis war groß. Eine von zwei schwarzen Pferden gezogene Kutsche, Sargträger mit Zylindern, Menschen am offenen Grab. In den Briefen an meine Großmutter, die ich mühsam aus dem Sütterlin heraus übertrug, ist einmal von einer Beerdigung die Rede. Ob das diese Beerdigung war? Wer da nun genau betrauert wurde, das wird ein Rätsel bleiben.
Ebenso, wer die zwei Gestalten sind, die da auf einem anderen Foto mit Rechen auf einer dörflichen Wiese stehen und Heu machen.
In dem Fundus finden sich außerdem unzählige sehr alte, auf Pappe gezogene Fotografien von Konfirmanden, die geduldig und mit dem Gesangbuch in der Hand darauf warten, sich wieder bewegen zu dürfen. Ganz ähnliche Atelierbilder gibt es auch von Paaren, die Frauen teilweise noch in Tracht, mit hochgeschlossenen Krägen und viel, viel Kleid, die Männer stehend dahinter, eine Hand auf Lehne oder Schulter, ganz Pater Familias.
Dann ist da auch dieses Bild von einem älteren Paar. Sie sitzen nebeneinander in Korbstühlen, er mit einer Art Schiffermütze (hierzulande sagt man "Kipse") auf dem Kopf und einem Gehstock in der Hand, sie mit einem großen Feldblumenstrauß und einem wunderschönen Lachen im Gesicht, vor allem aber in den Augen. Dies gehört zu meinen Lieblingsbildern.
Am meisten gefallen mir die Bilder, die lebendig wirken, weniger museumshaft, eher wie eingefangener Alltag. Meine Großmutter, wie sie an einer Wäscheleine mit weißen Unterhemden steht.
Wie sie mit meinem Großvater am Wegesrand auf einem Zaun sitzt, im Schoß ein weißes Papier mit Butterbrot, als Wegzehrung vielleicht bei einem Spaziergang. Jüngere Fotos in quadratischem Format zeigen sie beim Schmücken des Weihnachtsbaumes und beim Äpfelpflücken in fast derselben Pose.
Im Hintergrund steht die weiße Bank, die mal mein Großvater baute und auf der auch ich als Kind noch gesessen habe. Auf einem recht verschwommenen Bild steht meine Großmutter mit ihrer Schwester am Straßenrand. Ganz einfach so.
Ich kannte meine Großmutter immer in blauer Kittelschürze, füllig, aber nicht dick, mit wassergewellten Haaren, immer lebenspraktisch. Sonntags auch mal fein herausgeputzt, im weißgepunkteten Kleid mit Kragen und Perlenkette. Vor allem war sie immer für mich da. Ich kannte sie als apfelschälende, Zwieback mit Zucker bestreuende, die Krümel vom Tisch aufpickende Oma. Ich sehe sie vor meinem inneren Auge, wie sie in Holzschuhen den Garten umgrub und Reihen machte, um auszusäen. Wie sie im Sommer mit einer Schüssel auf den Knien Kartoffeln schälte oder Bohnen schnitt. Wie sie heimlich ein Stück Salami vom Tisch fallen ließ für den Hund, wenn sie dachte, keiner schaut hin. Ich habe meine Großmutter sehr, sehr geliebt und höre ihre Stimme oft immer noch in Gedanken, tröstend, fürsorglich und manchmal rügend.
In der Fotokiste ist auch ein kleinformatiges Bild, das meine Großmutter als junges Mädchen in einem ovalen Bildausschnitt zeigt. Ich schaue es mir immer wieder an, lange, mit der Frage im Kopf, was sie noch alles erlebt haben mag und worüber sie nie sprach. Ihre Geschichte ist lang.
Und zwischen all den sepiafarbenen Aufnahmen liegt ein Farbfoto, das meine Großmutter zeigt, wie ich sie kannte: Die Haare inzwischen schlohweiß, beugt sie sich über einen großen Becher Eis mit Erdbeeren, konzentriert und doch genussvoll. Da schließt sich der Kreis. Es ist schön, dass es sie gab in meinem Leben.
Anmerkung:
Hochzeiten. Die hat es natürlich im Leben meiner Großmutter reichlich gegeben, nicht nur ihre eigene und die ihrer Verwandten und Bekannten. Daher finden sich viele dieser Hochzeitsfotos. Die ältesten in dem Fundus mögen aus der Zeit etwa um 1900 oder etwas früher stammen, die jüngsten schätze ich ungefähr auf die frühen 50er Jahre. Bis dahin war es offensichtlich Sitte, in schwarz zu heiraten, wie ich drüben bei Frau Feuerlibelle angemerkt hatte. Eine Galerie dieser Fotos findet sich in den Kommentaren zu diesem Beitrag, damit nicht zu viele Bilder auf meiner Startseite geladen werden müssen.
Zum Beispiel ist da auf so vielen Bildern eine Frau mit rauhem, irgendwie aber gütigem Gesicht und strenger Frisur, meist in derbem, dunklem Rock und Schürze, kräftig, mit dicken Fingern. Das ist meine Urgroßmutter, die Mutter meines Großvaters, den ich selbst nie kennen gelernt habe. Oft ist sie gemeinsam mit ihrer Schwiegertochter, meiner Großmutter zu sehen - ohne die im Krieg befindlichen Männer. Jemand im Bekanntenkreis oder der Familie hatte offenbar schon damals die Möglichkeit, Fotografien zu machen, und so sieht man die Frauen nicht nur zusammen auf einem sorgsam arrangierten Atelierbild - die jüngere, die ältere und meine vielleicht zwei Jahre alte Tante. Sondern man sieht sie auch zusammen im Hof stehen, oder auf einem lässigen wirkenden Gruppenfoto, auf dem sich meine Urgroßmutter beinahe mädchenhaft an ihre Nachbarin lehnt, unter Frühlingsbäumen. Es gibt sogar noch ein älteres Bild, dessen Oberfläche silbrig glänzt, wenn man sie gegen das Licht kippt. Es zeigt meine Urgroßeltern als junge Leute mit ihren beiden Kindern.
Während ich von der anderen Seite, also aus dem Elternhaus meines Vaters beinahe keine Bilder habe, herrscht hier Fülle. Meine Vorfahren dort so sitzen zu sehen, rührt mich auf seltsame Weise und schürt in mir den Wunsch, durch das Bild hindurch zu reichen und herauszufinden, wer sie waren.
Da sind auch Bilder von einem kleinen Wicht mit Matrosenmütze vor einem Ziehbrunnen, der einen gefleckten Hund auf dem Schoß hält. Aus ihm sollte später einmal der Schmied werden, den dann die Linse der Kamera einfing, wie er den Hinterfuß eines Pferdes festhält.
Oder auch, wie er im Sonntagsanzug mit seinen Schwägern auf der Wiese liegt, entspannt, mit einer gewissen Flegelhaftigkeit. Auf dem Rad, über die Schulter zurückschauend. Und schließlich neben meiner Großmutter, mit weißer Fliege, kühner Welle im Haar und dem Zylinder in der Hand, bei seiner Hochzeit. Wir haben die gleichen Ohren.
Zu anderen Bildern habe ich nicht die geringste Erklärung. Da ist eine ganze Serie kleinformatiger Fotos mit gewelltem Rand, die eine Beerdigung zeigen. Der Verstorbene muss wohl nicht eben unbedeutend gewesen sein, denn der Volksauflauf zu seinem Begräbnis war groß. Eine von zwei schwarzen Pferden gezogene Kutsche, Sargträger mit Zylindern, Menschen am offenen Grab. In den Briefen an meine Großmutter, die ich mühsam aus dem Sütterlin heraus übertrug, ist einmal von einer Beerdigung die Rede. Ob das diese Beerdigung war? Wer da nun genau betrauert wurde, das wird ein Rätsel bleiben.
Ebenso, wer die zwei Gestalten sind, die da auf einem anderen Foto mit Rechen auf einer dörflichen Wiese stehen und Heu machen.
In dem Fundus finden sich außerdem unzählige sehr alte, auf Pappe gezogene Fotografien von Konfirmanden, die geduldig und mit dem Gesangbuch in der Hand darauf warten, sich wieder bewegen zu dürfen. Ganz ähnliche Atelierbilder gibt es auch von Paaren, die Frauen teilweise noch in Tracht, mit hochgeschlossenen Krägen und viel, viel Kleid, die Männer stehend dahinter, eine Hand auf Lehne oder Schulter, ganz Pater Familias.
Dann ist da auch dieses Bild von einem älteren Paar. Sie sitzen nebeneinander in Korbstühlen, er mit einer Art Schiffermütze (hierzulande sagt man "Kipse") auf dem Kopf und einem Gehstock in der Hand, sie mit einem großen Feldblumenstrauß und einem wunderschönen Lachen im Gesicht, vor allem aber in den Augen. Dies gehört zu meinen Lieblingsbildern.
Am meisten gefallen mir die Bilder, die lebendig wirken, weniger museumshaft, eher wie eingefangener Alltag. Meine Großmutter, wie sie an einer Wäscheleine mit weißen Unterhemden steht.
Wie sie mit meinem Großvater am Wegesrand auf einem Zaun sitzt, im Schoß ein weißes Papier mit Butterbrot, als Wegzehrung vielleicht bei einem Spaziergang. Jüngere Fotos in quadratischem Format zeigen sie beim Schmücken des Weihnachtsbaumes und beim Äpfelpflücken in fast derselben Pose.
Im Hintergrund steht die weiße Bank, die mal mein Großvater baute und auf der auch ich als Kind noch gesessen habe. Auf einem recht verschwommenen Bild steht meine Großmutter mit ihrer Schwester am Straßenrand. Ganz einfach so.
Ich kannte meine Großmutter immer in blauer Kittelschürze, füllig, aber nicht dick, mit wassergewellten Haaren, immer lebenspraktisch. Sonntags auch mal fein herausgeputzt, im weißgepunkteten Kleid mit Kragen und Perlenkette. Vor allem war sie immer für mich da. Ich kannte sie als apfelschälende, Zwieback mit Zucker bestreuende, die Krümel vom Tisch aufpickende Oma. Ich sehe sie vor meinem inneren Auge, wie sie in Holzschuhen den Garten umgrub und Reihen machte, um auszusäen. Wie sie im Sommer mit einer Schüssel auf den Knien Kartoffeln schälte oder Bohnen schnitt. Wie sie heimlich ein Stück Salami vom Tisch fallen ließ für den Hund, wenn sie dachte, keiner schaut hin. Ich habe meine Großmutter sehr, sehr geliebt und höre ihre Stimme oft immer noch in Gedanken, tröstend, fürsorglich und manchmal rügend.
In der Fotokiste ist auch ein kleinformatiges Bild, das meine Großmutter als junges Mädchen in einem ovalen Bildausschnitt zeigt. Ich schaue es mir immer wieder an, lange, mit der Frage im Kopf, was sie noch alles erlebt haben mag und worüber sie nie sprach. Ihre Geschichte ist lang.
Und zwischen all den sepiafarbenen Aufnahmen liegt ein Farbfoto, das meine Großmutter zeigt, wie ich sie kannte: Die Haare inzwischen schlohweiß, beugt sie sich über einen großen Becher Eis mit Erdbeeren, konzentriert und doch genussvoll. Da schließt sich der Kreis. Es ist schön, dass es sie gab in meinem Leben.
Anmerkung:
Hochzeiten. Die hat es natürlich im Leben meiner Großmutter reichlich gegeben, nicht nur ihre eigene und die ihrer Verwandten und Bekannten. Daher finden sich viele dieser Hochzeitsfotos. Die ältesten in dem Fundus mögen aus der Zeit etwa um 1900 oder etwas früher stammen, die jüngsten schätze ich ungefähr auf die frühen 50er Jahre. Bis dahin war es offensichtlich Sitte, in schwarz zu heiraten, wie ich drüben bei Frau Feuerlibelle angemerkt hatte. Eine Galerie dieser Fotos findet sich in den Kommentaren zu diesem Beitrag, damit nicht zu viele Bilder auf meiner Startseite geladen werden müssen.