Sturmflut
Ich bin anders
Ich erinnere mich noch gut, wie ich zwei Jahre lang wöchentlich meinem Therapeuten gegenüber saß und mir nichts sehnlicher wünschte, als dass er mir sagen möge, ich sei jemand Besonderes. Ich habe gehofft, dass dieser Mensch, der mir so wichtig war, mir bestätigen würde, dass ich einzigartig bin. Oder es doch zumindest von mir dächte. Den Gefallen tat er wohlweislich nie, auch wenn ich mir sicher bin, dass er den Wunsch erspürt haben muss.

Es ging und geht dabei gar nicht darum, besser zu sein als andere Menschen. Schmerz tut es auch (und nichtmal zur Not). Mein Schmerz war außergewöhnlich. Meine Macken. Mein Verhalten. Meine Sensibilität. Vor allem mein Seelenleben, das ich für so viel tiefer und intensiver hielt als das aller anderen. Ich trug das mit mir herum wie ein Paar schwarzer Flügel, und dazu eine Misanthropie, die mir selbst heute nicht ganz entglitten ist.

Aber der Blickwinkel hat sich verändert. Stoße ich heute bei anderen auf diese Haltung, dann bin ich beinahe sofort genervt. Unter Teenagern mag es noch akzeptabel sein, sich als so sehr anders zu beschreiben als die Mehrheit der Menschen, mit denen man umgeht. Vielleicht ist das sogar eine Art notwendiger Selbstfindung, wenn man noch keine genaue Ahnung davon hat, wer man ist. Und vielleicht noch keinen gangbaren Weg gefunden hat, das eigene Herz zu ent-mördergruben.

An Erwachsenen finde ich diese Attitüde eher anstrengend. Es spielt eine Art passive Arroganz mit hinein, die mir missfällt. Für "Mich versteht sowieso keiner!" ist es doch irgendwie zu spät. Mit diesem bitter-originellen Hauch erhebt man sich gern über die vermeintlich Normalen und schneidet sich damit selbst von allem ab - auch von dem Umstand, dass alle Menschen unterschiedlich sind und sich genau darin ähneln.

Rückblickend habe ich den Verdacht, es war auch bei mir so ein bisschen wie mit den Trauben, an die der Fuchs in der Fabel nicht herankam. Ich fahre jetzt immer morgens mit dem Rad durch ein Wohngebiet, und ich sehe in die leuchtenden Fenster, und dort sitzen sie dann alle, frühstückend, sich unterhaltend im gelben Licht. Das "Dämliche Spießer!", das mir durch den Kopf schießt, schneidet mich flugs von meinem unerfüllten Wunsch ab, genussvoll, in Geborgenheit und mit dem Menschen, den ich liebe im Hellen zu sitzen, anstatt durch die Dämmerung in einen neuen Arbeitstag zu strampeln, der kaum Raum für Persönliches lässt.

Das ist exemplarisch, für beinahe mein ganzes vergangenes Leben. Ich verachte doch lieber, was ich nicht haben kann, verachte die Leichtigkeit, Wärme und Verbundenheit, mit der manche Menschen ihr Leben (wenn auch oft nur scheinbar) leben. Das ist so viel einfacher als sich einzugestehen, dass mein Sehnen danach enttäuscht werden könnte, weil das Leben ein Arschloch ist. Lieber bin ich selbst eines und halte fest, wie sehr mich das von den Stinknormalen, den Spießern, den lahmen Idioten abhebt.

Im Grunde ist das feige. Aber auf der anderen Seite lauert eben die immense Angst, mit den eigenen Eigenheiten nicht anerkannt zu sein. Ich ertappe mich heute noch manchmal bei dem Versuch, mich mit den Augen meines Vaters zu sehen und in ihnen Anerkennung zu finden. Das ist wie eine Gnade, und wenn man sie nie erfahren hat, dann leugnet man eben irgendwann, sie sich überhaupt zu wünschen.

Verbissen wirkt mein damaliges Ich heute auf mich, angestrengt und unendlich einsam. Vor langer Zeit sagte mir auf einer Studentenparty mal eine Frau, die ich überhaupt nicht kannte: "Du willst doch nur hart wirken!" Damals traf mich ihre Beobachtung, aber ich weiß inzwischen, dass es so war. Ich selbst zu sein hätte für mich den Tod bedeutet. Das Risiko war zu groß, in meiner Eigenheit inakzeptabel zu sein.

Deshalb war ich anders. Ich bin auch heute noch anders, aber nicht mehr oder weniger anders als andere. Es ist erstaunlich, dass das reine eigene Sein so viel schwieriger und angsteinflößender ist als dieses scharfkantige Sich-Abgrenzen und das Leiden daran. Dieser ungeheuer selbstbezogene Traum von Verlorenheit wird mit so viel Mühe gepflegt, so sinnlos und schmerzhaft.

Ich habe meine schwarzen Flügel irgendwann verloren. Zu Fuß gehen tut bisweilen weh, der größeren Haftung wegen. So ist das Leben.