Sturmflut
Die Indolenz der Vielen
Manchmal "erinnere" ich mich mit einer gewissen Verklärung an die Protestkultur meiner Elterngeneration. Als man noch laut und deutlich kundtat, wenn man gegen etwas war. Den Nato-Doppelbeschluss oder den Bau neuer Atomkraftwerke oder Landebahnen. Man ist geneigt zu sagen, dass es diese Form der Protestkultur nicht mehr gibt. Obwohl ich an dieser Stelle auch zugeben muss: Meine Eltern haben niemals protestiert. Sie waren viel zu beschäftigt damit, sich mit Eigenheim und Kleinfamilie einzurichten. Ich selbst habe also in meinem Elternhaus auch keine Protestkultur gelernt. Man wäre in unserem Dorf auch reichlich schräg angeschaut worden, hätte man gegen irgendwas protestiert. Schräg angeschaut zu werden war so ziemlich das Schlimmste, das einem passieren konnte.

Den Mund machte man nicht auf. Auch dann nicht, wenn es durchaus Anlass gab. Die tieffliegenden Kampfflugzeuge beispielsweise, deren Lärm für mich zum Sommer gehörte wie das Geräusch von Rasenmähern und die Geranien im Kasten. Die Kampfflugzeuge gibt es heute noch, ich empfinde den Lärm inzwischen als unerträglich. Aber die, die früher protestierten, sind heute in den Sechzigern, und die Jungen (er-)kennen das Problem nicht mehr. Wenn es den Gatten und mich in dieser Sache zwischendurch mal wieder auf die Straße treibt, dann erleben wir als Reaktion unserer Mitbürger häufig nur noch Unverständnis. Warum regt uns das auf?

Ja, warum sich überhaupt aufregen? Warum auf die Straße gehen? Ich kann ja schließlich auch von meinem Laptop aus bequem auf dem Sofa eine Campact-Aktion zeichnen und habe dann meinen Teil zum Protest beigetragen. Wenn ich denn etwas finde, das mich hinreichend aufregt.



Es ist inzwischen schon ein paar Wochen her, da verschlug es uns zur Verleihung der Big Brother Awards nach Bielefeld, und zuvor gab es wieder einmal eine Demonstration unter dem Motto "Freiheit statt Angst". Die Überwachung durch Staaten und Unternehmen gehört für mich ganz klar zu den Dingen, über die ich mich aufregen kann. Und das nicht erst seit den jüngsten Skandalen in Sachen BND und NSA. Letztere vermitteln mir persönlich aber noch einmal das Gefühl besonderer Dringlichkeit, wenn es darum geht, die eigene Freiheit deutlich einzufordern, so lange das noch möglich ist. Und zwar nicht zuhause vor dem Rechner (auch wenn ich das Mittel als solches für durchaus legitim und wirksam und den Diskurs im Netz für wichtig halte), sondern auf der Straße, mit lauter Stimme und Plakaten aus Pappe.



Ist diese Form des Protests überholt? Ist Protestieren überhaupt überholt? Gibt es dazu noch Anlass, wo es uns allen doch eigentlich gut geht und man nichts zu befürchten hat, wenn man nichts zu verbergen hat? Ich kam mir jedenfalls im Bielefelder Demonstrationszug (der traurigerweise aus nur rund 70 Leuten bestand) vor wie ein Tier im Zoo, wie ein begaffter Exot.



An diesem Freitagnachmittag, der einigermaßen sonnig und trocken war, waren die Bielefelder mit Shopping beschäftigt und schüttelten in der Mehrzahl der Fälle ungläubig den Kopf, schauten verkrampft in eine andere Richtung oder erwogen gar einen Ortswechsel, weil der Demonstrationszug zum Zweck einer kurzen Kundgebung an der Sonnenterrasse des Cafés haltgemacht hatte und die schöne Entspannung dahin war.



Was wollen diese Leute?, stand den meisten unbeteiligten Zuschauern als Frage deutlich ins Gesicht geschrieben. Zumindest aber: Hey, stör mich nicht beim Shoppen! Zeitweilig etwas weniger unbeteiligt wirkten die Umstehenden nur, als ich das Objektiv meiner kleinen Kamera auf sie richtete und sie sich plötzlich beobachtet fühlten.



Vielleicht hat sich der Begriff der Freiheit gewandelt. Vielleicht besteht die erstrebenswerteste Form der Freiheit für die Mehrheit der Menschen darin, zu konsumieren und ansonsten in Ruhe gelassen zu werden. Etwas in mir mag vom Verhalten der Leute an diesem Bielefelder Freitag nicht auf die Gefühle der Mehrheit schließen, aber letztlich setzt sich doch die Pessimistin in mir durch. Dieses Phlegma, das in der Luft hängt wie süßes Parfum, diese Uninteressiertheit bleibt mir vollkommen unverständlich.



Ist das geboren aus der Annahme, die da oben™ machten ohnehin, was sie wollten, ganz gleich, ob man protestierte? Ist es Resignation, oder ist es reine Trägheit? Kein Bock auf Protest? Oder ist es Unwissen? Ich bin eh nicht bei Facebook, also warum die Aufregung? Oder liegt es daran, dass man gar nicht mehr aus seinem Convenience-Reservat herauswill? Daran, dass Weiterdenken zu viel Energie kostet? Sammeln Sie Payback-Punkte?

Im Falle des Volkszorns, der sich gegen die angebliche Überfremdung des Abendlandes richtet, scheint der Protest auf der Straße leichtzufallen. Klar, bestimmte Alltagserlebnisse sind natürlich auch viel greifbarer als das Überwachungsverhalten staatlicher und wirtschaftlicher Institutionen. Es ist einfach, sich über die Präsenz von Menschen aufzuregen, die anders aussehen und sich anders verhalten als man selbst. Überwachung hingegen ist abstraktes Neuland und ein bisschen wie radioaktive Strahlung. Tut erstmal nicht weh.



Manchmal habe ich den Eindruck, es dauert ohnehin sehr lange, bis den meisten Menschen etwas weh tut. Mich persönlich schmerzt am meisten der blauäugige Glaube, den Durchschnittsbürger schütze seine eigene Rechtschaffenheit vor der Willkür des wachenden Auges. Dabei ist das wachende Auge an sich schon Willkür, denn es treibt uns dazu, nur noch konforme Gedanken äußern und schließlich auch denken zu können. Mitnichten sind die Gedanken frei. Du wurdest verarscht!

Lässt sich gegen diese Indolenz anschreiben, anbrüllen, anweinen? Ich weiß es nicht. Wir sind ja bereits mitten drin in 1984, nur, dass das mit viel weniger offensichtlicher Gewalt geschieht, als Orwell dachte. Es braucht keine Ratten mehr, die uns so viel Angst einjagen, dass wir Mitmenschen und Ideale verraten. Wir haben sie erst gar nicht.