Sturmflut
Mehr tot als lebendig
Inzwischen bin ich ziemlich gelassen, wenn ich meiner Schwester begegne. Der Drang, mich ihr gegenüber für mein Leben zu rechtfertigen oder meine Leistungen aufzulisten, hat deutlich nachgelassen. Ob sie mich ver- oder beurteilen wird, treibt mich nicht mehr um, denn wenn sie es tun will, tut sie es so oder so. Ich nehme an, wirklich nah werden wir uns wohl nie sein. Dennoch merke ich auch, dass sie längst nicht alles böse meint, was sie von sich gibt, und dass sie prinzipiell freundlich sein kann. Heute mehr als früher.

Genau so befremdet mich aber auch immer ihre Welt. Ich habe sie und ihre Familie länger nicht mehr gesehen, aber als wir uns gestern zum Mittagessen trafen, fühlte es sich nicht nennenswert anders an als sonst. Das bedeutet trotzdem auch, dass ich mich immer wieder wundere. Über ihre Kühle, darüber, wie extrem selten sie lacht, wie hart sie wirkt. Mein Schwager ist etwas ausgeglichener, ruhig, wärmer.

Ein Riesentheater wurde in dem Café-Restaurant, in dem wir saßen, um das Essen der Kinder gemacht. Meine Nichte, ihre beste Freundin und der Neffe aßen nicht zur Zufriedenheit meiner Schwester. Zu wenig. Hinterherkeineis. Klar, Essen ist mit Kindern immer ein Thema. Das ist auch bei den Kids auf der anderen Seite nicht anders. Aber meine Schwester sorgte dafür, dass zumindest Sohnemann das Essen ernst nahm. Sie griff hart in seinen Nacken, in der anderen Hand die Gabel mit den Nudeln, die sie in Richtung seines Mundes führte. "Du isst jetzt noch was!" Dass der Versuch dennoch misslang, frustrierte sie sichtlich.

Auf jede einzelne Äußerung der Kinder reagiert sie mit unglaublichem Ernst. Kein Raum für Spielerisches, kein Raum fürs Durchatmen. Wie schon eher war da obendrein die Angst, die Kinder könnten sie blamieren. "Da gucken bestimmt auch schon wieder alle!" "Wie gut, dass keiner direkt neben uns sitzt!"

Meine Schwester ist beinahe vollständig humorbefreit. Ich habe sie noch nie ungezwungen erlebt. Jedes Wort wird abgewogen.

Kontrast dazu dann das abendliche Grillen mit Freunden und deren Eltern bei uns. Niemand ist perfekt, auch diese Menschen nicht. Aber es ist so viel mehr Leben in allem. Es wird über Gefühle und Geschichte gesprochen, spontan gelacht, Anteilnahme gezeigt. Ich empfinde das als wirklich, als echt, als Grundzustand.

Ich frage mich, wann das Leben aus meiner Schwester herausrann und wann ihre knöcherne Maske Risse bekommen wird. Ich will mich nicht über sie erheben - wir hatten dieselben Eltern, und jede von uns geht damit anders um. Das Entsetzen packt mich, wenn ich den zwanghaften Umgang sehe, den sie mit ihren eigenen Kindern pflegt. Die Einhaltung von Regeln ist so wichtig, die Erfüllung ihrer starren Vorstellung davon, wie die Dinge zu sein haben. Das Gegenteil von Leben eben.