Sturmflut
Zeitreise
Freunde hatten für gestern abend die Idee, auf ein kleines Konzert zu gehen. Zwar fiel ich nachmittags mal in ein tiefes Müdigkeitsloch, eine Tasse Kaffee und der Wunsch nach Abwechslung halfen aber, es zu überwinden.

Wir fuhren in das benachbarte Städtchen, in dessen Jugendzentrum der besagte Bandabend stattfand. Oh! Kaum dem Auto entstiegen fühlte ich mich wie in eine Zeitreise entführt. Ich hatte in diesem Jugendzentrum (und diversen anderen) einen gewissen Teil meiner Freizeit als 15-, 16-, 17jährige verbracht, und die Erinnerungen an diese Zeit kamen wieder auf.

Jugendzentren und Teestuben haben diesen leicht abgegriffenen Charakter, diesen spezifischen Geruch von etwas sehr Vertrautem für mich. Es gab sehr lange kein größeres Highlight in der Woche als den Donnerstag, an dem das Jugendcafé öffnete und wir die Gelegenheit hatten, genussvoll auf durchgesessenen Sofas herumzuhängen, Getränkepreislisten mit Wachsmalkreiden auf Pappen zu malen, Billard zu spielen, zu kickern, Musik zu hören und große Töpfe voll selbstgemachtem Salat oder Gulaschsuppe für die abendliche Verköstigung bereitzustellen. Dazu kam, dass ich einen nicht unerheblichen Anteil der Einrichtungen im Umkreis mit Spraydose und Pinsel "verschönert" habe.

Das Jugendzentrum unseres Ortes und später auch diejenigen der Umgebung waren die Alternativen zur Schule. Dort fanden sich Menschen, die mich willkommen hießen, es gab Möglichkeiten, Anerkennung zu erhalten und akzeptiert zu werden, sich zu engagieren und Aufgaben zu übernehmen und nicht zuletzt auch, die jugendliche "Coolness" auszuleben, nach der man sich damals sehnte.

Das Konzert gestern zauberte die Atmosphäre von damals zurück. Kaffeebecher auf der abgewetzten Theke, die mit Konzert- und Veranstaltungsplakaten tapezierten Wände, die rotbraunen Bodenfliesen, das Publikum - Flash!



Der Bandabend bot Jugendlichen einer örtlichen Musikschule die Gelegenheit zum Auftritt, und während ich da saß und zu ihrer - zugegebenermaßen bisweilen etwas dissonanten - Musik mit den Füßen wippte, durchschoss mich der Gedanke, dass ich stolz wäre, wären das meine Kinder, die dort aufträten. Stolz auf den Mut und das Selbstvertrauen, die sie an den Tag legten. Nicht etwa musikalische Perfektion machte diesen Abend zu etwas Besonderem, sondern die Präsenz und die Art und Weise, wie sich diese jungen Menschen dort zu zeigen trauten, mit ihrem ganz eigenen Charakter und eigener, hör- und fühlbarer Stimme. Das hat mich sehr berührt.

In dieser lebendig gewordenen Erinnerung fand ich gestern abend ein so ausgeprägtes Wohlgefühl, wie ich es schon lange nicht mehr erlebt hatte. Das entsprang zum einen sicher dem Ort selbst, mit dem ich positive Erlebnisse verknüpfe. Zum anderen aber auch dem Umstand, dass sich am Ambiente offenbar nichts geändert hat.

Natürlich spüre ich beim Besuch eines solchen Ortes auch das eigene Älterwerden. Es ist in der Tat so, dass manche der musizierenden Kids vom Alter her meine eigenen hätten sein können. Klar, ich trank Wasser, Kaffee und alkoholfreies Bier und hatte vom Stehen irgendwann Rückenschmerzen.



Aber als eine kleine Combo als Zugabe "Smells Like Teen Spirit" spielte, war das vollkommen irrelevant. Nirvana gehörte zum Soundtrack meiner Jugend und hat sich mir - ich will beinahe sagen, epigenetisch - eingeschrieben. Die mit der Musik verknüpfte Erinnerung ist unauslöschbar. Das damit verbundene Gefühl, erstmals in meinem Leben meinen Eigenheiten auf die Spur gekommen zu sein, ebenfalls.

Insofern bleibt auch die neu hinzugefügte Erinnerung an diesen Abend ein Juwel.