Sturmflut
passiv-aggressiv
An anderer Stelle habe ich ja schon mal angemerkt, dass mir das tagtägliche Radio-Gedudel im Büro gewaltig zum Hals heraus hängt. Was Kollegen am aus dem Brüllwürfel dringenden "Programm" zu schätzen scheinen, nämlich seine banalen Alltags-Begleit-Qualitäten, bringt mich hingegen auf die Palme. Ich kann den musikalischen Dünnschiss nicht ignorieren, der da von links hinten auf mich zuschwallt. Ich besitze für diese Art der akustischen Belästigung keinen Filter. Üblicherweise bin ich ein Musik-Mensch, ich höre gern und viel Musik. Aber der tägliche Dudelfunk ist eine echte Zumutung. Die Wiederholungsfrequenz der einzelnen Titel und ihre überzuckerte Banalität summieren sich zu einer abgestandenen Pampe, die man jeden Tag essen muss, weil die Ohren das einzige Organ sind, das man nicht willentlich abschließen kann. Nicht, dass mir nicht schon in den Kopf gekommen wäre, mir einen Kopfhörer oder Ohrenstöpsel zu verpassen, aber ich arbeite nun doch in einem Bereich, in dem ein Minimum an Kommunikationsbereitschaft vonnöten ist.

Es scheint schwer nachzuvollziehen zu sein, dass nicht jeder mit diesem rappeligen, nöligen Klangteppich im Hintergrund zurechtkommt. Mich hat es regelrecht zermürbt, und es gibt viele, viele Titel, die mich regelrecht aggressiv machen und meine Nerven freilegen. Als gestern Angestellte der Stadtreinigung mit Laubbläsern auf dem Gehweg vor den Fenstern unseres Büros reichlich Lärm machten (der auch ziemlich nervig war), bedauerte ich am Ende ihr Gehen, weil dann das Radio wieder hörbar wurde. Daran lässt sich ermessen, wie absolut anstrengend und gruselig ich die Beschallung durch das Radio finde.

Nun ist mir durchaus bewusst, dass ich nicht allein auf der Welt bin, dass meine Empfindungen zu diesem Sachverhalt durch und durch subjektiv gefärbt sind und dass ich ein gewisses Maß an Toleranz aufbringen sollte. Da die Radiohörer dieses spezielle Büro schon vor uns belegten und wir von außen dazugekommen sind, haben wir uns den Gepflogenheiten erst einmal angepasst. Möglicherweise war es ein Fehler, die Radio-Angelegenheit nicht gleich von Beginn an zur Sprache zu bringen, weil die betreffenden Kollegen so glauben mussten, dass alles in Ordnung sei. Ab und an baten wir um Leiserdrehen, und den Bitten wurde anstandslos nachgekommen. Nett - eigentlich.

Dennoch war es mir nicht möglich, das Gedudel wegzuignorieren. Mit Entsetzen stellte ich fest, dass ich schon morgens nach dem Aufstehen Ohrwürmer hatte, die ich nicht haben wollte. Und dass ich immer genervter wurde ob dieser Tatsache, denn wer will schon innerlich Musik hören, die er eigentlich abgrundtief hasst, aber nicht loswerden kann? Wer will schon in der Freizeit permanent krampfhaft mit Musik eigenen Geschmacks gegenbeschallen, um die Implantate zu "überspielen"?

Also fasste ich mir ein Herz und sprach es an. Ich bat - unter vorheriger Klarstellung, ich sei mir bewusst, dass das Thema Radio ein heikles sei - um einen Tag in der Woche "radiofrei". Beide anwesenden Kollegen kommentierten das mit "Also, mir ist das egal!", der dritte hatte zu dem Zeitpunkt Urlaub, ist aber ein grundfriedlicher Typ. Das wäre an und für sich mein Wunschergebnis gewesen. Nach diesem kurzen Satzwechsel dachte ich: "Mensch, das war einfach!" Und sagte es auch. Es zeigte sich dann, dass es aber doch nicht so egal war. Ich fragte, welcher Tag denn recht wäre, und erhielt keine Antwort. Ich musste erst konkret einen Kollegen ansprechen, der dann sagte: "Ja, such Dir einen aus." Das tat ich.

Mittwochs blieb das Radio aus. Ein Tag der himmlischen Ruhe, der Erholung für die Ohren, ein Tag, an dem ich meinen eigenen, geliebten inneren Ohrwurm den ganzen Tag pflegen durfte, ohne dass der von belanglosem Gejaule überschrieben wurde. Ein Tag, an dem mir die Konzentration auf die Arbeit leichter fiel. Ein Tag ohne den beinahe körperlichen Schmerz der akustischen Belästigung. Ein Tag mit latenter, passiver Aggression. Die Kälte war spürbar. Ich war das Schwein, das das Radio getötet hatte.

Der Tag drauf war ein Tag mit der Erkenntnis: Ich bin belogen worden. Das Radio lief. Das für sich genommen habe ich auch nicht anders erwartet. Aber egal schien es den Herren der Schöpfung doch nicht zu sein. Sonst hätten sie es ja um meinetwillen auch ausgeschaltet lassen können. Wieso kann man nicht so offen sein und sagen: "Wir hören gern Radio und würden das auch gern jeden Tag tun, aber wir können uns auf einen leisen Tag einigen"? Oder: "Was für ein Dreck, das Radio bleibt an, Du blöde Spaßbremse. Ohne geht gar nicht!"? "Also, mir ist das egal!" bedeutet in diesem Fall: "Ich bin eigentlich gegen einen radiofreien Tag und sehe auch nicht ein, was an dem Radio so schlimm sein soll, aber ich will nicht das Arsch sein und leide deswegen lieber stumm vor mich hin, als es offen zu sagen!"

Man könnte diese meine Annahmen über das innere Geschehen des Kollegen für reine Spekulation (oder möglicherweise sogar Paranoia) halten, wäre da nicht der heutige Ausbruch. Ein anderer Kollege bat heute darum, man möge das Gerät des Anstoßes vielleicht ein wenig leiser stellen. Da platzte der Angesprochene heraus, wieso denn immer nur er angesprochen würde, wenn es um das Radio ginge. Und es sei im Übrigen nicht lauter oder leiser als am Tag zuvor. Aber ihm sei das egal. Dann solle man das Radio eben ganz aus machen. Der andere Kollege solle auch mal was dazu sagen. Der jedoch - in Dingen wie diesen eher stoischer Natur - schwieg beharrlich.

Wie ich dieses verdammt passiv-aggressives Verhalten hasse. Ich halte offene Auseinandersetzungen (die ja kein Streit sein müssen) für wünschenswert. Aber auf Fragen wie "Macht es Dir etwas aus...?" erhält man keine ehrlichen Antworten mehr. Statt zu aufrichtigen und ehrlichen Kompromissen zu kommen, wird ein Schattenkrieg geführt. Das Gegenüber zieht sich kindlich-trotzig zurück, leidet vor sich hin, lässt einen spüren, wie unfair man ist und transportiert das, indem die Kommunikation auf das Knappste reduziert, Grüße nicht mehr ausgesprochen werden. So etwas ist wirklich geradezu lächerlich pubertär. Ich möchte schreien: "Werd endlich erwachsen!" Da fühlt sich einer angegriffen, trägt es aber nicht aus. Und ich kenne ihn gut genug um zu wissen, dass er in der "ungefährlichen" Zone seines eigenen stillen Kämmerleins über all die Ungerechtigkeit jammert und motzt. Ich finde zum Kotzen, wenn jemand permanent den Weg des geringsten Widerstandes geht, um dann von sich behaupten zu können, doch so lieb und nett zu sein. So jemand eckt nie an, macht aber alle anderen dafür verantwortlich, dass ihn und seine Bedürfnisse keiner sieht. Diese Rückgratlosigkeit finde ich einfach nur peinlich.

Vielleicht wäre es angemessen, sich angesichts dieser Umstände einfach zum rücksichtslosen Arschloch zu entwickeln, das ausnutzt, wenn niemand widerspricht. Schließlich sind sie selbst Schuld, und ich könnte genießen, dass ich so leicht meinen Willen kriege. Ich muss ja nicht Dauerkuscheln, also sollten mir die "Sanktionen" in Form von Beleidigtsein und eingeschnapptem Schweigen egal sein. Vielleicht kann ich dem sogar etwas abgewinnen. Ich weiß nur noch nicht, ob ich mich darüber erschrecken sollte.