Sturmflut
Das Recht auf Sterben
Auf dem Titelblatt der ADAC-Motorwelt (zugegebenermaßen nicht unbedingt bekannt für hochklassigen, qualifizierten Journalismus, aber dafür umso mehr Menschen zugänglich) sind in diesem Monat mal keine schnittigen Autos zu sehen. Statt dessen sieben in die Kamera strahlende, auf den ersten Blick ganz normal wirkende Leute. Darunter prangt dick in roter Schrift die Schlagzeile: "Danke, wir leben noch!"

Es ist soweit. In Deutschland sollen jetzt die Menschen von ihren Krankenversicherungen nach ihrer Bereitschaft zur Organspende befragt werden. Also ist das Thema auch wieder in den Medien präsent. Mir fällt aber auf, dass es nicht um eine ausgewogene Berichterstattung geht und das Für und Wider der Organspende sachlich dargestellt werden soll. Es geht schlicht und ergreifend darum, mehr Menschen zur Spende zu bewegen. Das Thema ist hochemotional, und es wird weiter emotionalisiert, weil man die Menschen nun einmal am besten bei ihren Gefühlen packen kann.

Das ADAC-Heftchen ist dabei nur ein Beispiel für den kritiklosen und tendenziösen Umgang mit dem Thema. Stellvertretend kann man auch jedes Krankenkassenmagazin oder die Bild-Zeitung aufschlagen. Wie es die Bäckerblume derzeit hält, weiß ich nicht.

"Danke, wir leben noch!" Die sieben Personen auf dem Cover des Auto-Hefts findet man auch im Innenteil wieder. Sie sind allesamt Transplantierte, und in kleinen Textblöcken steht neben ihren nunmehr ernst blickenden Gesichtern geschrieben, wie das so ist, das Leben nach der Transplantation. Die kleine Sophia, 9, liebt Ballett und reitet. Die Psychologin Carmen wollte für ihre beiden Kinder weiterleben. Emeran studiert jetzt und hat bei den Weltmeisterschaften für Transplantierte im Schwimmen zwei Goldmedaillen gewonnen. Katharina fährt in den Urlaub an die Adria. Und der 69jährige Helmut lässt vor lauter Dankbarkeit für den Spender jedes Jahr am Tage seiner Transplantation eine Messe lesen. Amen.

Es ist schön, dass diese Menschen leben. Im Artikel wird ein weiteres Schicksal beschrieben, auch hier ist es ein junger Mensch, dem das Leben gerettet wird, der jetzt eine Zukunftsperspektive hat, sich ins volle Leben stürzen kann. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wirbt: "Organspende schenkt Leben". Alles könnte so wunderbar sein, würden doch nur mehr Menschen Organe spenden. Das ist der Tenor der derzeit veröffentlichten Artikel. Das Hauptaugenmerk liegt darauf, wie gut eine Organspende ist und wie viele Menschen noch gerettet werden könnten, würden wir nur alle mal unsere Hemmungen überwinden und unsere Spendebereitschaft dokumentieren.

Ich bin im Besitz eines Organspendeausweises. Nun ist es nicht so, dass mich das zu einem besseren Menschen macht, denn auf meinem Ausweis widerspreche ich der Entnahme von Organen nach meinem Tod. Ich bin keine, die Leben schenkt. Ich bin unmoralisch und egoistisch. Das ist doch das Fazit, das man aus der derzeitigen Berichterstattung ziehen könnte, oder nicht? Wenn die Organspende so eine tolle Sache ist, und ich keine von denen bin, die anderen Menschen auf diesem Wege ein neues Leben schenken möchte, dann bin ich einfach nur herzlos. Oh, pardon, ich habe meines ja noch.

Ich habe Einwände. Ich bin damit offensichtlich auch nicht die einzige. Der Transplantationsmediziner Meiser, fürs ADAC-Magazin ernst dreinblickend im weißen Kittel neben einem Ultraschallgerät posierend, gibt in einem separaten kleinen Interview seine persönliche Ansicht zu etwaigen Bedenken und Gegenargumenten zum Besten:

Frage: "Gegner von Organspenden behaupten, der Mensch verkomme nach dem Tod zum Ersatzteillager."
Meiser: "Wenn Sie so wollen, bin ich lieber ein Ersatzteillager als Madenfutter. Denn was wäre die Alternative? Ich sterbe, komme in die Grube, wo ich verwese. Dann ist es mir lieber, dass meine Organe das Leben anderer Menschen retten."

Ja, so einfach ist das. Auf diese für einen Prof. Dr. bemerkenswert stumpfe Aussage reduziert Meiser berechtigte Bedenken und ist dabei so routiniert, als habe er, einem Call-Center-Agent gleich, ein Protokoll zur Einwandbehandlung vor sich liegen, von dem er abläse. Aber schau an! Der Mann ist Präsident und Vorstandsmitglied von Eurotransplant und nicht einfach nur, wie die Autozeitschrift schreibt, Leiter des Transplantationszentrums München. Neutraler Gesprächspartner? Gewiss nicht. Auch den Rest dieses Interviews gestaltet er offenbar bewusst vage, spricht von "sehr guten Prognosen" für Transplantierte und dem Trost, den die Organspende auch für die Angehörigen des Spenders darstellen könne. Nun darf man aber sicher zu Recht annehmen, dass Herr Prof. Dr. Meiser die Risiken, Prognosen und Statistiken genauer kennt und weiß, dass im Klinikalltag längst nicht alles so rosig ist, wie die glücklichen Gesichter der Transplantierten in diesem Artikel glauben machen wollen.

Es stimmt. Ich sterbe und komme in die Grube und verwese (ich meinerseits in den Ofen und verbrenne). Keine Illusionen, keine Verklärungen. Ich kann damit umgehen. Das, was Herr Meiser da allerdings auf Nachfrage dem Leser um die Ohren haut, ist eine schonungslose und schroffe Antwort auf sehr menschliche Befürchtungen und sehr stichhaltige Argumente. Er spricht nicht von sich, sondern sagt eigentlich: "Ach, stell Dich doch nicht so an, Du beißt eh ins Gras. Wirf Deine ethischen, moralischen und persönlichen Bedenken über Bord und stelle Deinen Körper zur Verfügung, denn alles andere ist reine Ressourcenverschwendung!"

Auf meinem Organspendeausweis steht:
"Für den Fall, dass nach meinem Tod eine Spende von Organen/Geweben zur Transplantation in Frage kommt, erkläre ich (...)" (Hervorhebung im Original).

Und da fängt das Problem an. Es gibt selbstverständlich Richtlinien zur Definition des Hirntods. Auf der von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung betriebenen Webseite www.organspende-info.de wird unter der Fragestellung "Wann ist ein Mensch tot?" konstatiert, der Hirntod sei ein sicheres Todeszeichen. Weiter heißt es: "Er ist nach weltweit anerkanntem naturwissenschaftlich-medizinischem Erkenntnisstand ein sicheres Todeszeichen des Menschen. Denn mit dem Ausfall der Gesamtfunktion des Gehirns ist die leiblich-seelische/körperlich-geistige/physisch-metaphysische Einheit unwiederbringlich beendet, die jeder Mensch darstellt."

Das jedoch ist eine Anmaßung. Irreversibel mag er sein, der Tod des Gehirns. Fraglich ist zumindest, ob das gesamte Gehirn tot ist. Inwieweit dieser Zustand aber gleichzusetzen ist mit dem Ende des Bewusstseins, der Aktivität verschiedenster Zellen im Körper und der des Lebens eines Menschen schlechthin, das wissen wir einfach nicht. Alles, was wir wissen ist, wie es aussieht, wenn ein EEG eine Nulllinie zeigt.

In der "Zeit" gab es einen lesenswerten Artikel über unterschiedliche Definitionen des Todes und des Hirntod-Begriffs und die damit verbundenen ethischen Fragestellungen. Darin ist zu lesen:

"Das Gehirn, die zentrale Steuerungseinheit für den Organismus, sei die Verkörperung des humanen Prinzips, meinen die Hirntod-Befürworter und argumentieren wie folgt: Ohne Gehirn sei Atmung nicht möglich. Der hirntote Mensch sei zwar physisches Dasein auf zellulärer Ebene, jedoch ohne Verstandestätigkeit und soziale Interaktion – und das sei Vegetieren, nicht Leben. "Der Mensch als einzigartiges Geschöpf existiert nicht mehr, wenn sein Gehirn nicht mehr funktioniert", sagt Walter Haupt, Universitätsprofessor und leitender Oberarzt an der Universität Köln. Ein von außen künstlich aufrechterhaltener Körper mit totem Gehirn ist nach Haupts Auffassung kein Individuum mehr. Schalte man den Respirator ab, breche der Kreislauf in kürzester Zeit zusammen, das Herz stehe still. In dieser Logik wird das Menschenleben gleichgesetzt mit körperlicher und geistiger Autonomie des Individuums."

Man könne den Menschen aber auch anders begreifen, als "(...) holistisches System also, das erst in totaler Desintegration ende."

Ließe man es allerdings zu dieser Desintegration kommen, dann wäre es aus mit der Entnahme transplantationsfähiger Organe. Dann könnten nicht, wie es die ADAC-Motorwelt so schön vereinfacht schreibt, acht Menschenleben gerettet werden. Denn nach der "Feststellung" des Hirntods beginnen allerhand Rädchen, sich zu drehen, um die Organe transplantierbar zu halten. Die Deutsche Stiftung Organtransplantation listet die Maßnahmen unter dem Stichwort "Organprotektive Intensivtherapie" säuberlich auf. Blutdruck, Herzfrequenz, Sauerstoffsättigung, Blutzucker und noch viele weitere Parameter werden penibel genau eingestellt. Es wird Leben simuliert, denn sonst stürbe, was per definitionem angeblich schon tot ist.

Stimmt, ein Hirntoter wird nicht von allein wieder beginnen zu atmen. Nach Abschalten der Maschinen geschähe, was ganz natürlich ist. Er stirbt. Alles von ihm stirbt, wenn man es lässt. Irgendwann auch die letzte Zelle. Und all die bunten, glänzenden Dinge, die ein Brustkorb, eine Bauchhöhle bergen und die viele süße kleine Sophies, die so gern Ballett machen und reiten, so gut brauchen könnten, sterben mit diesem Menschen.

Die Würde des Menschen ist unantastbar. So steht es in unserem Grundgesetz geschrieben. Ich bin der Auffassung, das hat auch für sterbende Menschen zu gelten. Sterben ist ein Prozess, in dem der Mensch ein Anrecht auf seine Würde hat. Selbst dann, wenn ich menschliches Gemüse bin und auch nicht die geringste Aussicht darauf besteht, dass ich qua Spontanheilung aus meinem Bett hüpfe, selbst dann, wenn Mediziner keine wie auch immer gearteten Therapien mehr an mir probieren würden und mich aufgäben, selbst dann habe ich ein Recht auf meine Würde und meinen Sterbeprozess.

Herr Meiser hat nicht verstanden, dass der Unterschied zwischen Madenfutter und Ersatzteillager in der Würde des Sterbevorgangs begründet liegt. Wenn ich Madenfutter bin, dann bin ich tot. Zu dem Zeitpunkt, zu dem ich noch als Ersatzteillager für andere Menschen dienen kann, bin ich noch am Leben. Was in diesem Zustand alles noch möglich ist, bis hin zum erfolgreichen Austragen eines Kindes, ist der modernen Medizin geschuldet. Was gemacht werden kann, wird gemacht werden.

In diesem Land braucht es dazu zur Zeit noch, was man "informed consent" nennt – die informierte Zustimmung des Betroffenen oder seiner engsten Angehörigen. Was "informiert" bedeutet, darüber gehen die Meinungen auseinander. Mir scheint, für engagierte Transplantationsmediziner bedeutet "informiert" vor allem "meiner Meinung". Die Festsetzung eines Todeszeitpunktes nach Kriterien, die es ermöglichen, jemanden als "kein Individuum" mehr zu bezeichnen und zugleich Zugriff zu erhalten auf lebensfähige Organe, ist kein Zufall.

Aber selbstverständlich geht keiner dieser engagierten Mediziner hin und sagt den potentiellen Spendern deutlich: "Wir wissen nicht genau, wie Sterben eigentlich vor sich geht!" Lieber betont man, die Spender seien schmerzfrei, Zuckungen auf dem OP-Tisch seien nur dem Rückenmark zuzuschreiben, und Bewusstsein sei ohnehin keines mehr da. Aber noch viel lieber hält man der Menschheit das Bild einer kleinen, ballettanzenden Sophie vor die Nase und erzählt, dass die Kleine längst nicht mehr so schön tanzen würde, wenn sie kein Spenderorgan erhalten hätte.

Informierte Zustimmung ist etwas anderes. Ganz offen wird kommuniziert, dass man mehr Menschen dazu bewegen möchte, Organspender zu werden. Bei der Erreichung dieses hehren Ziels ist der Einsatz einseitiger Berichterstattung ein erlaubtes und probates Mittel. Verschwiegen wird, was unbequem ist. Man spricht kaum über Abstoßungsreaktionen und Überlebensraten, und wirklich umfängliche und detaillierte Zahlen hierzu habe ich auch noch nirgends gefunden.

Der "Zeit"-Artikel fragt:
"Ist der Prozess des Sterbens ein Teil des Lebens? (…) Ein neuer Todesbegriff würde sich erst dann herausbilden, wenn sich der Geist der Zeit umkehrt. Der ist aber nach Lage der Dinge auf ein glückseliges, schmerzfreies, stets reparables Leben ausgerichtet – im Sinne eines pragmatischen Materialismus (…)."

Pragmatischer Materialismus. So lange es darum geht, zu machen, was gemacht werden kann, ist in der Tat das Recht auf das eigene Sterben sekundär, und das einzige anerkannte Verständnis von Leben und Tod ist dasjenige, das dieser Mentalität entgegenkommt.

So bleibt mir nur, meine Meinung deutlich auf einer Karte mit mir herumzutragen, um sicherzugehen, dass ich in Ruhe den Löffel abgeben kann. Dass mich das stigmatisiert als Menschen ohne jeglichen Sinn für Nächstenliebe, das werte ich denn auch als Ausdruck von Zeitgeist und hoffe, es kommen einmal bessere Zeiten.