Sturmflut
Freitag, 4. Dezember 2009
Spuren
Spuren sind, was bleibt, wenn vorher etwas oder jemand da war.

Sie können harmlos und unschuldig sein: Fußspuren im Schnee, Knitterspuren vom Kissen auf der Wange.

Oder schön: Handschrift in einem Brief, ein getrocknetes Kleeblatt zwischen den Seiten eines antiquarischen Buches.

Oder ärgerlich: Fußabdrücke auf frisch gewischten Fliesen, Fingerspuren auf frisch poliertem Glas, Brandspuren einer Zigarette im Sofapolster.

Oder dramatisch: Bremsspuren auf der Autobahn, Narben auf der Haut, Lippenstift am Hemdkragen, DNA-Spuren am Tatort.

Manche Spuren sieht man nicht. Das macht sie nicht weniger real. Diese Spuren sind deutlich zu spüren. Ich spüre seine Spuren jeden Tag, immer wieder. Es sind die Spuren seiner Hände, die keine Grenzen kannten. Es sind die Spuren seiner Worte, die laut und oft unbarmherzig waren. Auch sein Gehen hat eine Spur verursacht - wer ahnt schon, dass auch eine Leere solche Spuren hinterlässt.

Ich spüre seine Spuren in anderen Menschen. Das ist sein zweifelhaftes Geschenk an mich. Seine Spuren gehören nicht zu diesen Menschen. Sie rauben den Menschen, die mir begegnen, die Unschuld. Es sind alte Spuren, die nicht ins Hier und Jetzt gehören. Ich erkenne sie so oft nicht einmal als Spuren und tue anderen Unrecht, die keine Ahnung haben von dem, der vor ihnen, vor allen anderen da gewesen ist.

Es bleibt an mir, diese Spuren zu lesen und zu deuten und mich und meine Mitmenschen davon zu befreien. Danke, Vater, für dieses harte Stück Arbeit!

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