Sturmflut
Donnerstag, 7. Oktober 2010
Armes Abendland
Differenziertes Denken ist offenbar des Durchschnittsdeutschen Stärke nicht. Im Gegenteil, in letzter Zeit bedarf es offenbar nur einiger kleiner Reizworte, um sofort eine heftige Polemik-Lawine loszutreten. Da geben sich Politiker und Normalbürger nicht viel. Das zur Zeit wohl beliebteste Reizwort ist "Islam". Zonk total.

Der Bundespräsident - man mag von ihm halten, was man will - hielt eine Rede zum Feiertag der "Deutschen Einheit". Die war insgesamt recht lang, und neben allerhand anderen Sätzen fielen unter anderem auch diese vier hier:

"Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland."

Daran entzündet sich jetzt der Volkszorn, und nicht nur der. Frau Merkel in ihrer Eigenschaft als Bundespräsidenten-Reden-Interpretatorin stellte gleich klar, dass das jetzt aber nicht heiße, in Deutschland gelte die Scharia. Heinz Buschkowsky, seines Zeichens Bürgermeister in Berlin-Neukölln, meinte, man dürfe "nicht wieder alles gleich schönreden". Das Objekt, das er da schöngeredet sieht, ist offenbar die von ihm direkt erlebte harte Neuköllner Realität. Und "Volkes Stimme", die Bild-Zeitung, überschreibt einen Online-Artikel mit der schmissigen Frage: "Warum hofieren Sie den Islam so, Herr Präsident?"

Dabei beschreibt Herr Wulff eigentlich seinerseits auch nur eine Realität: Der Islam gehört zu Deutschland. Ob und wie weit die Deutschen das wollen und wie sie damit umgehen ist wieder ein ganz anderes Kapitel. Hätte der Bundespräsident wissen müssen, dass dieser für sich genommen noch neutrale Satz nach hinten losgehen muss? Das wäre eine Frage, die ihm zu stellen sich lohnte und deren Beantwortung mehr über seine Qualifikation als Bundespräsident aussagte als seine Verwendung des Reizwortes "Islam" an sich.

Es gibt viele Muslime in Deutschland, das ist Fakt. Daran ändert auch permanentes Gemaule über die ach so fiesen Minarette nichts, die angeblich das Ortsbild verschandeln, oder das polemische Geschwafel über Underground-Islamisten, die angeblich im Schutz deutscher Demokratie und Verfassung massenweise zu Terroristen herangebrütet werden. Es ändert nichts an den realen Verhältnissen, wenn man sie einfach nur stumpf ablehnt. Im Gegenteil, starre Haltungen verfestigen Problematiken und die Spaltung der Gesellschaft in diametral entgegengesetzte Lager. Es ist naiv zu glauben, dass eine Lösung der tatsächlich vorhandenen Probleme ganz einfach darin liegen könnte, "endlich mal Klartext zu sprechen", wie es beispielsweise Herrn Sarrazin in letzter Zeit so übermäßig wohlwollend unterstellt wurde.

Wie die Mehrheit der Deutschen wirklich tickt, darüber kann man nur Vermutungen anstellen. Mich erschreckt allerdings, was sich so im Internet, dem großen Meinungspool für alle, an Aussagen allein zu diesen vier Tage alten Sätzen des Bundespräsidenten findet. Einiges davon ist an Denkbefreitheit kaum zu überbieten. Fleißig nutzten allerhand neugeborene Ur-Deutsche die Möglichkeit, Web-Artikel zum Thema zu kommentieren oder sich in Portalen auszukotzen.

Beinahe die nettesten Äußerungen sind noch:

"Mohammed Wulff ist ein charakterloser Dummschwätzer, der Deutschland und die europäischen Werte verrät, um sich bei fanatischen Moslems anzubiedern. Pfui Teufel !"

und

"Dieser Wulff im Schafspelz ist als Führer der Deutschen untragbar. Hoffentlich nimmt er bald freiwillig den Hut. Wenn er ein Quäntchen Ehre im Ranzen hat, sollter er das tun!"

Besonders spannend (und abstoßend) fand ich die Synthese von Homo- und Xenophobie:

Frage bei "Yahoo clever": "Werden wir nur noch von Kranken, Schwulen und machtgierigen Politikern regiert?"
Antwort: "muss ja so sein denn ansonsten würden die nicht öffentlich sagen das der Islam zu Deutschland gehöhrt !!"

und

"Wulff`'s rede ist genau so instinktlos wie einen Schwulen zum Aussenminister zu machen. Nichts gegen schwul sein aber es ist ein arffront für einige Länder auf dieser Erde und in einigen anderen Ländern würde er als Schwuler eingekerkert oder hingerichtet."

Mancher fühlt sich - typisch deutsch - als ewig Zu-Kurz-Gekommener und schiebt die Schuld - typisch deutsch - den bösen anderen zu:

"Alle Muslime zurückführen in die Heimat! Wir hätten schlagartig die öffentlichen Haushalte saniert! Und könnten uns um den eigenen Nachwuchs kümmern - Schulen sanieren, Bildung forcieren, die Forschung und Wissenschaft ausbauen. Mit halbwissenden Moslems, die hier alles ablehnen, ist dies ja schwer möglich."

Ich weiß, vieles von dem, was ich hier zitiere ist Senf, richtiger Senf. Das erschreckt mich gerade so. Absichtlich habe ich die orthographischen Fehler unkorrigiert gelassen. Denn vom Bildungsgrad hängt offensichtlich zumindest zum Teil auch ab, wie unsachlich und verblendet die Reaktionen inhaltlich sind. Manche der Schreiberlinge sind nicht einmal in der Lage, einen Gedanken über die Spanne eines Satzes logisch und konsequent zu Ende zu führen:

"Wir weden von Heuchler und Lügner verwaltet, denn wer erleben muss, dass z.B. das Benzin für die armen Menschen täglich teurer wird, aber gleichzeitig werden in fremden Ländern Kriege geführt und ohne auf die Umwelt Rücksicht zu nehmen, werden ganze Tankwagenzüge dort sinnlos verfeuert und der Rauch in die Luft geblasen, dass läßt keine anderen Schlüsse mehr zu - und wem das gleichgültig ist in dieser Welt, ist ein Schurke."

Man könnte sich angesichts solcher Bräsigkeit verführt sehen, sich entspannt zurückzulehnen und solche Stimmen als Äußerungen verdrehter Spinner und absolute Ausnahmen zu betrachten. Sollte man aber besser nicht tun, weil...

"Ich sehe momentan nur die eine Möglichkeit, die Republikaner zu wählen, und das mach ich auch - der Wulff hat doch auch schon eine ürkische Ministerin erzeugt-dann gleich einen türk. Bundespräsidenten"

"Alle Deutschen sollen nun mal endlich begreifen und eine neue ehrliche volkstreue Partei wählen. Liebe Westdeutschen, lerne von den Erfahrungen der ehemaligen DDR-Bürger. Liebe Elite-Parteigenossen und liebe Politiker, trete mutig aus miserablen Parteien aus und trete in eine neue volkstreue Partei ein, sonst seid Ihr keine volkstreuen Patrioten mehr!"

Der Zorn dieser Menschen ist gefährlich, denn er ist es erst, der Extremismus nährt. Ich bin schockiert darüber, dass solche Sprüche neuerdings salonfähig werden. Dass die Angelegenheit in den Köpfen und Herzen der Menschen so aus dem Ruder läuft, liegt zweifelsfrei an den Versäumnissen der Politik in der Vergangenheit. Es hat seine Ursache durchaus aber auch am ausgeprägten Interesse der Medien an Stimmungsmache und Polarisierung. Sie treffen einen Nerv, der in der Bevölkerung aufgrund von Alltagserfahrungen, Vorurteilen und Klischees sowie eigener Geschichte und Erziehung ohnehin schon bloßliegt. Genau so hatten wir das vor rund achtzig Jahren schon mal.

Und was jetzt? Ich glaube, es nützt nicht viel, wenn Bundespräsident Wulff in seiner Rede betont:

""Deutschland, einig Vaterland", das heißt, unsere Verfassung und die in ihr festgeschriebenen Werte zu achten und zu schützen. Zu allererst die Würde eines jeden Menschen, aber auch die Meinungsfreiheit, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau."

Natürlich ist die Handlungsmacht eines Bundespräsidenten faktisch begrenzt. Daher kann er nur reden und repräsentieren. Das Fleisch auf diesen Knochen muss von den Volksvertretern geliefert werden. Damit meine ich nicht, das Fähnchen ganz nach Bedarf und kurzfristig nach dem Wind zu hängen, der einem aus den Wählerreihen entgegenweht. Damit meine ich, dass es gilt, einen Konsens darüber zu erzielen, in was für einer Gesellschaft wir eigentlich leben wollen. Es ist viel von Werten die Rede, aber die lassen sich nicht durch Lehrgänge und Gesinnungstests in den Köpfen von Zuwanderern verankern - das ist allenfalls Kosmetik an der kritischen Situation. Begriffe wie der der "deutschen Leitkultur" greifen zu kurz, weil sie Integration zu einer einseitig zu erbringenden Leistung deklarieren und die Realität verkennen. Integration basiert zu einem großen Teil auf "Wollen", auf "Müssen" lässt sie sich nicht aufbauen. Aber für "Wollen" benötigt es Verstehen und Verständigung, die meiner Auffassung nach durch sarrazinistischen "Klartext" auf beiden Seiten unterbunden werden.

Manche Werte halte ich für unveräußerlich, und ich gehe mit Herrn Wulff d'accord, dass allen Menschen, die in diesem Land leben, klar sein muss, dass sie nicht biegsam sind. Bis auf eine Ausnahme: Die Glaubensfreiheit. Ich finde es bemerkenswert, dass sie in Wulffs Aufzählung der Werte vor der Gleichberechtigung von Mann und Frau rangiert, welche erschreckenderweise auf dem letzten Platz gelandet ist. Ob sich daraus eine inhaltliche Gewichtung aus Sicht des Herrn Bundespräsidenten ergibt, sei dahingestellt.

Es ist wichtig und richtig, dass jeder Mensch ein Recht auf freie Ausübung seiner Konfession hat. Aber dieses Recht muss an seine Grenzen stoßen, wo fundamentalere Rechte verletzt werden. Meiner Meinung nach gehört eine eindeutige Neugewichtung in unsere Verfassung. Es ist wichtig, Glaubensfreiheit im Grundgesetz zu verankern, aber das Recht auf Meinungsfreiheit, Würde und ganz besonders auf die Gleichberechtigung der Geschlechter muss unbedingt höher stehen.

Denn die Auffassung von Glaube ist immer Interpretationssache. Übermorgen kann mein Nachbar auf mich zutreten und sagen, dass es im Sinne seines persönlichen Glaubens ist, mir Farbbeutel an die Fenster zu werfen - regelmäßig jeden Mittwoch zum Beispiel.

Wenn er sich auf die im Grundgesetz verankerte Glaubensfreiheit beruft, ist es dann sein Recht? Natürlich nicht.

Aber die Handhabung von Glaubensdingen ist in jeglicher Hinsicht flexibel. Die Tatsache, dass sich jemand in seiner Glaubensauffassung diskriminiert oder eingeschränkt sieht, rechtfertigt zunehmend auch in unserer Gesellschaft die psychische und physische Misshandlung von Menschen - nicht nur, aber besonders von Frauen. Das darf es nicht geben.

Ich halte es für zwingend notwendig, Werte vollständig unabhängig von religiösen Grundsätzen zu formulieren. Religion beinhaltet eine Menge irrationaler Aspekte, die in einem aufgeklärten, freiheitlichen Land nicht Maßstab des Handelns sein dürfen, mag ihre spirituelle Bedeutung für den einzelnen noch so groß sein.

Religion ist interpretierbar, und das macht sie als Handlungsgrundlage eines Staates vollständig untauglich. Christlich-jüdische Prägung hin oder her, die Trennung zwischen Staat und Kirche gehört in Deutschland noch deutlicher gelebt. Dieses Land muss seine Werte für jeden, der ihn ihm lebt, verständlich und nachvollziehbar machen, und das kann nur gehen, wenn sie von der Religion entkoppelt werden. Wenn Menschenrechte in diesem Land als veräußerlich betrachtet werden, sobald sie jemandes religiöse Gefühle verletzen, macht sich der Staat unglaubwürdig.

Verständlich natürlich, dass sich insbesondere eine konservative Regierung gegen eine solche Trennung sträubt. Religion ist von jeher auch immer schon Mittel zur moralischen Machtausübung gewesen, und auf ein solches Mittel verzichtet es sich schwer. Vielleicht wird deswegen jetzt auch aus den erzkonservativen Reihen der Union am lautesten gejammert, spürt man doch, dass es Bereiche gibt, in denen nicht die eigene religiös gefärbte Machtausübung greift, sondern eine andere, die einem wesensfremd und beängstigend erscheint. Wer phobisch alles Fremde vermeidet, weil es ihn selbst in Frage stellt, kann nicht zu Kommunikation kommen.

Gern noch ein Wort zur Würde: Wenn sich jemand in religiöse oder kulturelle Abgrenzung flüchtet, wie es in den Parallelgesellschaften dieses Landes und anderer Länder der Fall ist, dann ist er oft auf der Suche nach einem Ausgleich für seine subjektiv empfundene Macht-, Hilf- und Würdelosigkeit.

Wenn also im Grundgesetz die Würde des Menschen als unantastbar beschrieben wird, täglich aber Bürger dieses Landes andere Erfahrungen im Alltag machen müssen - sei es mit Ämtern, Ärzten, bei der Arbeit, in den Lebensumständen - dann darf doch so eine Reaktion nicht verwundern. Sie ist im Gegenteil die vollkommen logische Konsequenz aus den Strukturen, in denen Menschen bei uns leben. Aller mit Krampf und Kohle herbeigeförderter wirtschaftlicher Aufschwung vermag den Menschen das Gefühl der Würde nicht zurückzugeben, und so wäre es wohl in allererster Linie die Aufgabe des Staates (aber nicht nur des Staates), sich über die Lebenswürdigkeit der Rahmenbedingungen einige reifliche Gedanken zu machen.

Wenn das Abendland untergeht, dann nicht wegen der einströmenden "islamistischen" Kräfte, wegen Überfremdung und terroristischer Tendenzen, sondern weil es hier zu kalt zum Leben ist und das einzig adäquate Mittel, dieser Kälte entgegenzutreten, für viele Menschen allein noch die heiße Wut auf andere ist.

Quellen:
www.bundespraesident.de
www.welt.de
Yahoo Clever

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