Sturmflut
Dienstag, 3. Mai 2011
Also, das geht jetzt aber zu weit...
"Kampusch rechnet mit Eltern ab!" lautete die Schlagzeile, die mir heute von der "Nachrichten"-Seite eines Mailproviders entgegensprang. Da konnte ich natürlich nicht widerstehen und klickte auf "mehr...", während ich den Hintern von "Prinzessin" Kates Schwester Philippa ruhigen Gewissens links liegen ließ.

Der Artikel ereiferte sich über Aussagen, die Natascha Kampusch gegenüber einer italienischen Zeitung gemacht hat. Zum Einstieg hieß es:

"Viele Menschen hatten Mitleid mit der heute 23-jährigen Frau. Doch was sie nun über ihre Eltern auspackt, dürfte ihr wenige Freunde machen."

Halten wir also mal nach der ersten Zeile fest: Entführtwerden ist grausam, berechtigt aber nicht zur freien Meinungsäußerung über die eigenen Eltern. Da hört das öffentliche Mitgefühl dann auf.

Und weiter:

"Ihre Eltern seien nicht bereit gewesen, Verantwortung für sie zu übernehmen, sagte Kampusch der italienischen Zeitung "Corriere della Sera". Nicht die Eltern hätten für sie gesorgt, sondern sie habe vielmehr den Eindruck gehabt, sie müsse Verantwortung für ihren Vater und ihre Mutter übernehmen. Doch schlimmer noch: An ihrem Vater lässt sie kein gutes Haar. "Mein Vater ist so unreif. Er ist in einem Entwicklungsstadium steckengeblieben, das nicht meinem entspricht", soll sie der Zeitung gesagt haben.

Ich habe Frau Kampusch ehrlich gesagt immer bewundert, weil sie der Öffentlichkeit deutlich gemacht hat, was sie zu verarbeiten hat und dass das nicht immer auf eine der breiten Mehrheit genehme Art und Weise geschehen muss. Ihre Mutter beispielsweise echauffierte sich in einem Fernsehinterview, das ich kürzlich sah, darüber, dass Natascha von ihrem Entführer Priklopil Abschied genommen habe. Warum auch nicht? Es nützt ja der jungen Frau überhaupt nichts, wenn sie leugnet, dass dieser Mensch eine Bedeutung für ihr Leben hatte. Aber hier schon klingt ein moralischer Maßstab durch: Das macht man nicht! Böse ist böse und gut ist gut, und so hat es gefälligst auch zu bleiben.

Das aber nur so nebenbei. Ich weiß nicht, wie sinnvoll oder nicht sinnvoll es ist, sich in der Öffentlichkeit über die eigenen Eltern zu äußern, aber für Frau Kampusch scheint es eine Möglichkeit zu sein, mit den Erlebnissen ihrer Kindheit und Jugend umzugehen. Im Grunde mache ich hier das Gleiche, auch wenn mein Blog keine Tageszeitung ist. Und der Punkt ist: Was hat sie denn Schlimmes gesagt? Vielleicht bin ich ja voreingenommen und nehme sie nur deshalb in Schutz, weil meine Erfahrungen ähnlich waren. Aber es ist lediglich eine Schilderung ihrer persönlichen Empfindungen. Die Umkehrung der Eltern-Kind-Rollen ist in vielen Familien Realität und beruht nun gerade auf der Unreife der Erwachsenen, die eigentlich die Verantwortung hätten, sich (in dieser Hinsicht hauptsächlich emotional) ums Kind zu kümmern. Und sie sagt, diese Unreife entspricht ihr einfach nicht. Das finde ich voll und ganz nachvollziehbar.

Der Artikel ist für mich eigentlich nur ein Gedankenanstoß. Vor ein paar Tagen stolperte ich über die Thematik "Verlassene Eltern". Dabei geht es grob gesagt um Eltern, deren Kinder den Kontakt zu ihnen abgebrochen haben. Und auch da finde ich mich natürlich wieder. Ich googelte und stieß auf die Seite einer Selbsthilfegruppe für "verlassene und verstoßene Eltern". Das Lesen bestärkte mir, was ich aus meiner eigenen Erfahrung kenne:

Man darf Eltern nicht kritisieren. Das ist ein absolutes, unumstößliches Tabu.

Die Betreiber der "Verlassene Eltern"-Seite forderten auch die Kinder ausdrücklich auf, sich im Gästebuch zu ihren Motiven für die Kontaktsperre zu äußern. Denn so sei es den Eltern eventuell besser möglich, die eigenen Kinder zu verstehen und das Leiden in Grenzen zu halten. Interessante Aufforderung, und so offen... Aber im Gästebuch tobte dann doch ein ausgiebiger Krieg zwischen den alteingesessenen Eltern und den wenigen Kindern, die es wagten, sich zu äußern. Auf geradezu kindlich-narzisstische Art und Weise jammern die Eltern seitenweise über Nicht-Einladungen zu Hochzeiten, über abgewiesene Telefonate, zurückgeschickte Briefe und unbekannten Verzug oder über die Erlaubnisverweigerung, die Enkelkinder zu sehen. Und das alles geschah nach Ansicht der Eltern selbstverständlich vollkommen ohne nachvollziehbaren Grund. Da wurde den Kindern unterstellt, sich mit ihrer Nichtkommunikation aufs hohe Ross zu setzen und für das Leiden und die immer neuen Verletzungen die ganze Verantwortung zu tragen. Angesichts solch ausgeprägter Larmoyanz hege ich doch erhebliche Zweifel an der Kritikfähigkeit dieser Menschen, die sich zunächst so tapfer auf die Fahne schreiben, die Geschichten der Kinder hören zu wollen.

In dieselbe Kerbe geht auch, was mein Mailportal über Frau Kampusch schrieb:

"Dass sie nach ihrem dramatischen Leben ihre Eltern erst neu kennenlernen musste, leuchtet ein. Dennoch überraschen Sätze wie dieser: "Heute muss ich aber an mich denken. Deshalb versuche ich jetzt, eine Grenze zu anderen Menschen zu ziehen." Dass sie damit gerade den Personen einen Schlag ins Gesicht verpasst, die sie wohl am meisten lieben, scheint Kampusch nicht klar zu sein."

Ist es das, was Eltern nicht ertragen? Denn genau das erlebte ich auch: Abgrenzung ist unerwünscht. Zu schwer wiegt der Gedanke, dass man selbst als Mutter oder Vater tatsächlich Fehler gemacht, tatsächlich wichtige Beziehungen versaut haben könnte. Den Kern der narzisstischen Kränkung, keine gloriose Mutter- oder Vatergestalt zu sein, gibt die Gründerin einer Selbsthilfegruppe für "verlassene Eltern" in einem Internet-Interview perfekt zu Protokoll:

"Ich fühlte mich als Rabenmutter, als hätte ich völlig versagt. Aus Scham darüber habe ich anfangs so getan, als wäre alles in Ordnung, wenn sich jemand nach meinem Kind erkundigte."

Es ist das eigene Versagen, die eigene Fehlerhaftigkeit, die niemals in den Fokus rücken darf. So ist eine konstruktive Auseinandersetzung nicht möglich, und das spüren die Kinder. Deshalb wird die Kommunikation aufgegeben, denn die Versuche führen ohnehin zu nichts. Ich bin davon überzeugt, dass viele Kinder zumindest ansatzweise Kontakt halten würden, wenn von den Eltern Signale des Mitfühlens und des Verstehens kämen. Statt dessen aber reagieren viele Eltern reflexartig auf die vermeintliche Nestbeschmutzung. In meinem eigenen Fall habe ich das als Bagatellisierung erlebt. Meine Mutter sagte: "Aber das war doch alles nicht so schlimm!" Warum soll man dann noch reden?

Deshalb finde ich Kampuschs Aussage vollkommen legitim, und sie ist in meinen Augen mitnichten ein "Schlag ins Gesicht". An sich selbst zu denken und Grenzen zu ziehen ist allerdings in der Beziehung zu Eltern ganz besonders unerwünscht. Wenn einen das eigene Kind nicht mehr vorbehaltlos liebt, ja wo kommen wir denn da hin? Wären es nicht die Eltern, gegen die sich das Kind abgrenzt, sondern ginge es um Beziehungspartner, Freunde oder Kollegen, so hätte jeder Verständnis. Aber Eltern sind die heiligen Kühe, deren Handeln auf gar keinen Fall hinterfragt, in Zweifel gezogen oder kritisiert werden darf. Die Tatsache, dass man sich als Kind vor den Eltern schützen muss, ist nach wie vor undenkbar. Häufig habe ich dann gelesen, dass die Eltern annehmen, ihr Kind wurde beeinflusst. Von einer Sekte. Vom Psychotherapeuten. Von der ungeliebten Schwiegertochter. Eher ziehen sie sämtliche noch so unwahrscheinlichen schädlichen Einflüsse des Umfelds in Betracht, als dass sie sich überlegen, was denn wohl tatsächlich schief gelaufen ist. Und dass aus dieser Erkenntnis und Anerkenntnis etwas Neues wachsen könnte, würde man es nur zulassen.

Mit allen Mitteln wird das Verhalten der Eltern gerechtfertigt, ihre Position in Schutz genommen. Argumente sind mangelnde Bewusstheit über die eigenen Fehler (was aber am Schaden nichts ändert!), das Gutgemeinte, das Gebot der Ehre, die man den Eltern zu erweisen hätte, die Verpflichtung zur Dankbarkeit (wofür?). In den Köpfen vieler scheint noch die Meinung vorzuherrschen, aus der Elternschaft allein leite sich so etwas wie ein Recht auf emotionale Versorgung durch das Kind und auf eine bestimmende Rolle in seinem Leben ab. Ich frage mich an der Stelle dann immer, was Eltern wohl meinen davon zu haben, wenn sich ihr Kind ihnen zuwendet aus Pflichtgefühl oder "Dankbarkeit". Wenn der Punkt ohnehin schon gekommen ist, an dem Eltern sagen: "...und das nach allem, was wir für Dich getan haben!", dann ist es zu spät. Dann wurde die Möglichkeit zu wirklichem Kontakt verspielt.

"Ich will doch nur, dass Du glücklich bist!", das hörte ich so oft von meiner Mutter. Was geschähe, wenn ich unglücklich wäre? Dann wäre ich ein sichtbares Zeichen für ihre eigene Unfähigkeit. Das kann nicht zugelassen werden. Anstatt Trost über das völlig natürliche und legitime Unglück wird einem das Gefühl zuteil, nur in glücklichem Zustand akzeptabel zu sein und geliebt zu werden. Dieses Gefühl reiht sich ein in all die anderen unausgesprochenen Verletzungen, die Eltern nicht als Problem erkennen und anerkennen. "Aber ich habe doch nie etwas Böses gesagt!" ist auch eine Reaktion, die ich kennenlernen durfte. Das, was zwischen den Zeilen transportiert wird, verletzt aber nicht minder. Und ewig wundern sich die Eltern, als seien sie selbst niemals Kind gewesen. Besonders, wenn sich die eigenen Kinder trauen, was zuvor noch ein vollkommenes Tabu war: Die Allmacht, Allwissenheit und Perfektion der Eltern anzuzweifeln.

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