Sturmflut
Montag, 27. Juni 2011
Ibiza (3): Authentizität
Es gibt tatsächlich Menschen, die wollen nichts erleben, wenn sie auf Reisen gehen. Zumindest nichts "landestypisches", was in diesem konkreten Fall heißt, nichts, was nicht in ihr Weltbild passt. Diesen Typus Mensch hat Herr Stubenzweig mit Hilfe zahlreicher Mitdiskutanten schon beschrieben. Auf Ibiza ist das nicht anders: Es gibt regelrechte Kolonien von deutschen und britischen Touristen, es sind zugegebenermaßen auch Spanier dabei, aber die fallen weniger auf. Schon bevor wir uns auf den Weg nach Ibiza machten, hörten wir im Internetradio "Ibiza Global Radio" einen überaus amüsanten Spot, der warb: "Let's have some Frankfurts!" Was könnte es auch wohl schöneres geben, als ein kulinarisches Großereignis mit eben jenen Frankfurter Würsten, "cerveza y bratwurst" zu verleben? Wir haben so gelacht. Irgendwann natürlich - vor Ort - wurde es eher nervig. Unser obligatorischer Besuch im "Café del Mar" in San Antoni war wunderschön (wenn auch natürlich touristisch), aber nach pittoreskem und allseits bejubeltem Sonnenuntergang verlangte der Magen sein Recht und wir landeten in einem der zahlreichen Lokale, die mit original britischem Frühstück ebenso warben wie mit "italienischem" Standardrepertoire (Spaghetti Bolognese und zwanzig Sorten Pizza). Den spanischen Teil trug Paella in allen Varianten bei. Heimisch konnte sich ergo jeder fühlen. Das aber nur am Rande...

Es gibt also die Spezies Tourist, die bitte auf gar keinen Fall irgend etwas Anstrengendes erleben will, am liebsten nur am Pool herumliegt und abends das Buffet des Hotels konsultiert - Hauptsache Sonne. Die zweite Sorte verbringt den Tag im Bett und die Nacht mit literweise Sangria oder Blue Curacao aus Flaschen an irgendeinem Stadtstrand.

Die dritte Sorte hat es in sich: Es gibt Menschen, die sind auf der Suche nach dem authentischen Etwas, nach dem, was zu berichten sie anschließend von den Massentouristen abhebt. Auf der Suche nach ibizenkischer Keramik, Folkloreveranstaltungen und den "urigen" Einheimischen, mit denen man dann aber doch nur gebrochen englisch sprechen kann, weil man es natürlich versäumt hat, das Erlernen der spanischen Sprache in die eigenen Reisevorbereitungen mit einzuschließen. Hätten sie es zumindest versucht, wären sie immerhin auf die Tatsache gestoßen, dass auf Ibiza Katalanisch gesprochen wird, aber vereinfacht hätte das die Sache auch nicht.

Klar, Massentourismus nervt. Der über unserem abgelegenen Taleinschnitt immer noch hörbare Fluglärm nervt (aber so sind wir schließlich auch hergekommen). Grölende, saufende Briten nerven. Der ganze Plastikschund, der in den Souvenirläden verkauft wird und garantiert in China oder sonstwo produziert wurde, nervt auch. Aber noch mehr nerven mich diejenigen Reisenden, die auf der großen Suche nach der Authentizität sind, nach dem "Echten", und sich dabei (in diesem speziellen Fall) in ein romantisiertes Bild vom Oliven erntenden ibizenkischen Bauern mit Strohhut versteigen, während sie angewidert die Mundwinkel verziehen über all die anderen, die dieses hehre Ziel nicht verfolgen.

Was ist denn jetzt authentisch? Tatsache ist, dass dieser Ort schon seit vierzig Jahren ein beliebtes Reiseziel ist, dass Ibiza nicht mehr vorrangig von der Landwirtschaft lebt, dass die spanischen Oliven, die wir abends auf der Terrasse knabbern, nicht aus dem Hain nebenan stammen, sondern vom Festland importiert wurden. Die Wurst (aus dem Supermarkt für den Alltagsverzehr, nicht die für die Upperclass-Touristen auf der Suche nach dem "Echten") ist fast ausschließlich mit Farbstoffen versehen und der Käse schmeckt oft nur wie Plastik. Die Insel ist eine Discotheken-Insel, sie ist eine Strand-Insel, eine Hotel-Insel, sie hat eine Sonnenbrillen-Mafia, die afrikanische Verkäufer mit Golce & Dabbana-Accessoires über die Strände schickt. Ibiza hat viele Bauruinen, halb fertig gestellte Villen, verfallene Ferienclubs, Autowracks, eine Hausbesetzer-Szene und verlassene Fischerhütten, die wütende Einheimische mit Slogans wie "Gays go home" und "Tourists go home" besprüht haben. Das ist ganz einfach so, und deshalb ist das das authentische Ibiza. Dass das manch zartes Gemüt auf der Suche nach sommerlicher Heile-Welt-Idylle nicht verkraftet, ist klar.

Das authentische Ibiza ist aber auch ein landschaftlich gesehen gigantisch schönes Fleckchen Erde mit Geschichte. Es ist ein Platz mit viel senkrecht stehender Sonne, einer vollkommen anderen Zeittaktung, kristallklarem Mittelmeerwasser, scheuen Reptilien und architektonischen Schätzchen und Schätzen. Es trägt immer noch diesen Hauch von Hippie-Flair, von dem die großen Modemacher ebenso wie zu spät gekommene mitteleuropäische Idealisten träumen, dem sie aber nicht wirklich nahe kommen. Wie es sich außersaisonal mit dem authentischen Ibiza verhält, darüber kann ich leider keine qualifizierte Aussage machen. Aber während der Saison (oder in unserem Fall der späten Vorsaison) ist es die Mühe wert, ein paar Schritte zu gehen und die ausgetretenen Pfade zu verlassen. Und manchmal ist es auch okay, sie zu betreten und mit hunderten anderer Menschen gemeinsam der untergehenden Sonne zu applaudieren oder dem aufgehenden Mond entgegenzutanzen.

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