Sturmflut
Mittwoch, 1. Februar 2012
Zeit
Irgendwie hatte ich immer ein verschrobenes Verhältnis zur Zeit. Vor allem hatte ich, so lange ich denken kann, das Gefühl, zu wenig davon zu haben, so als sei Zeit (vor allem Lebenszeit) etwas, das man in einem Eimer mit sich herumtragen könnte, und meiner habe ein Loch im Boden - winzig zwar, aber wenn ich nicht rennte, dann bliebe am Ende nichts mehr übrig. Dabei bleibt am Ende so oder so nichts übrig, dafür ist es ja das Ende. So bin ich aber immer mit meinem Eimer durch die Gegend gerannt, wie eine Irre, der die Höllenhunde auf den Fersen sind.

Ich war immer zu spät, so lange ich denken kann. Ich habe den Schulbus so oft von hinten gesehen, dass die Erinnerung daran zu einem einzigen Bild verschmolzen ist, untrennbar verbunden mit der Scham darüber, zu meinem Vater gehen und ihn darum bitten zu müssen, mich zur Schule zu fahren. Auch heute noch verschwindet die Zeit morgens einfach so. Ich drehe mich einmal um, und eine halbe Stunde ist verflogen, die sich für mich anfühlte wie fünf Minuten. Natürlich zieht sich meine Zeit auch mal in die Länge. Kälte hat einen enormen Einfluss auf mein Zeitempfinden - wenn ich frierend an der Bushaltestelle stehe und warte, vergehen die Minuten zäh wie Tapetenkleister. Oder wenn ich Arbeitstage habe, die mich nicht fesseln, herausfordern oder beschäftigen. Aber ich bemerke immer mehr, dass diese Momente seltener werden. Statt dessen sind mir die Tage zu kurz, was definitiv nicht daran liegt, dass es so früh dunkel wird.

Ich bin eigentlich kein ungeduldiger Mensch. Neulich beim Fleischer entschuldigte sich die Bedienung, dass sie unsere Bestellung nicht schon hatte vorbereiten können, und so musste ich warten. Sie packte unsere Tüte zusammen und warf mir hin und wieder einen entschuldigenden, peinlich berührten Blick zu, bis ich ihr erklärte, dass mir das Warten nichts ausmache, denn ich habe es nicht eilig. Habe ich auch tatsächlich nicht. Natürlich möchte ich irgendwann mal nach hause, ins Warme, und auch die Einkäufe sollten irgendwann in den Kühlschrank, aber mich hetzt keiner. Ich habe genügend Stoff zum Nachdenken, während ich irgendwo warte. Oder zum Schauen. Komisch, da habe ich auf einmal Zeit. Mehr als genug.

Neulich las ich mal irgendwo:
"Wer trödelt, hat mehr vom Leben!"

Das wirkt auf den ersten Blick völlig banal. Mein erster Reflex war, diese Aussage in die Schublade "Kalendersprüche" zu sortieren. Außerdem habe ich (und ich denke, mit mir Millionen anderer Menschen) gelernt, dass Trödeln absolut inakzeptabel ist. Vor meinem inneren Auge erscheint das Bild eines trödelnden Schulkindes, das den Heimweg mit halb geschulterter Tasche und über den Kies schlurfenden Füßen zurücklegt. Zuhause dann das Donnerwetter: Zu spät, zu spät, zu spät. Wenn ich heute drüber nachdenke, in welchen Situationen ich trödele, dann fällt mir vor allem wieder der Morgen ein. Ich möchte mich sortieren können. Ich möchte den Kaffee nicht herunterstürzen müssen, sondern möchte ihn auf meiner Zunge schmecken. Ich möchte mir den Schal nicht halb um den Hals werfen und die Handschuhe nicht draußen vor der Tür erst anziehen müssen. Vor allem möchte ich aber morgens erst einmal wach werden können. Das umfasst für mich den gesamten Zeitraum von etwa einer Dreiviertelstunde, nachdem ich die Augen aufgemacht habe. Je nach Verfassung vielleicht auch einer Stunde. Dann bin ich im Tag angekommen, nicht eher. Klar kann man bestimmte Dinge im Halbschlaf machen, die Zähne putzen zum Beispiel oder duschen. Aber wenn ich gezwungen bin, wach zu sein, obwohl ich es noch nicht bin, dann verschiebt sich meine Zeit. Sie wird inkongruent, ich stehe neben mir, kann keinen Halt finden. Ich würde gerne trödeln. Und das funktioniert. Wenn ich zur selben Zeit aufstehe wie immer, mir aber eine halbe Stunde Zeit mehr gebe, dann bin ich plötzlich in mir angekommen.

Da merke ich, dass nicht eigentlich ich das verschrobene Verhältnis zur Zeit habe, sondern dass ich meine eigene Zeit habe, die ich nicht missachten darf. Es stimmt, wer trödelt, hat mehr vom Leben. Denn wir hetzen inzwischen eigentlich den Großteil unserer Zeit durchs Leben und wollen möglichst viel erledigen, und das auch in unserer sogenannten Freizeit. So, als verlängere sich die uns gegebene Zeit dadurch, dass wir sie möglichst voll packen mit allem Möglichen. Erlebnis, Event, Entertainment - alles auf einmal. Ich kann mich aber nicht beklagen über die "heutige Schnelllebigkeit", wenn es doch meine eigene Entscheidung ist, wie viel Zeit ich auf etwas verwende oder nicht.

Es spielt natürlich das Diktat der Arbeit eine Rolle. Schon in meinem Grundschulzeugnis stand: "Das Sturm-Mädchen braucht zur Erledigung seiner Aufgaben zu viel Zeit!" Schon damals bestand der Tag aus vielen kleinen Zeitblöcken, innerhalb derer man sein Pensum erledigt haben musste. Und so ist es natürlich auch heute noch. Wer langsam arbeitet, gilt als ineffizient in einer Welt, in der alles auf Termin fabriziert wird. Da beginnt man plötzlich zu hadern, weil man Stunden verloren hat (als ob man Stunden wirklich verlieren könnte!), oder sogar Lebenszeit. Ich bin in der glücklichen Lage, eine Arbeitsnische zu besetzen, in der ich pünktlich arbeiten kann, aber nicht hetzen muss. Für jemanden, der im Akkord arbeitet, sieht das natürlich schon ganz anders aus. Neulich lernte ich (nach Recherche im Zusammenhang mit Herrn Stubenzweigs Text zum Thema), dass Menschen bei Bildschirmarbeit fünf (ich habe auch von zehn gelesen) Minuten Pause pro Stunde zustehen. Die Arbeitspause dient immer einem Zweck. Sie dient der Aufrechterhaltung beziehungsweise der Wiederherstellung der Arbeitskraft und des Funktionierens der humanen Ressource.

Aber ich kann mich wehren dagegen, dass diese Taktung und diese Wertungen auf mein übriges Leben übergreifen. Freie Zeit ist freie Zeit, in der das Geschehen sämig wird, in der man eine halbe Stunde lang in der Sonne sitzen kann und sich dafür nicht rechtfertigen muss. Das zu lernen ist keine leichte Lektion, weil aller vertrödelten Zeit das Prädikat "nutzlos" anhaftet. Aber wer hat zu entscheiden, ob meine Art des Umgangs mit meiner Zeit nutzlos ist oder nicht? Die Pause um der Pause Willen, zweckbefreit, ist die eigentliche, wirkliche, wahre Pause, die mich einstimmt auf mein eigenes Zeiterleben und mich zurückbringt in meinen eigenen Takt. Produktiv muss ich nicht sein. Ich habe heute eine Stunde nur damit zugebracht, den Scan eines Kieselsteins in Photoshop freizustellen. Wie uneffektiv uneffizient. Aber sehr bei mir.

Geduld ist keine Tugend, sie ist ein Geschenk. Und wer trödelt, hat tatsächlich mehr vom Leben. Er hat Zeit.

Meine Musik des Tages:
Sophia - Birds

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