Sturmflut
Dienstag, 20. März 2012
Zum Wohl!
Ich erwache nachts um halb drei mit heftigem Herzklopfen, Schweißausbrüchen und massiver Übelkeit. Das zugrundeliegende Problem ist ausnahmsweise nicht seelischer Natur. Es liegt darin begründet, dass ich nicht "nein" sagen konnte. "Nein" zu vier lächerlichen Gläsern Sekt und einem Ramazzotti mit Eis bei den Schwiegereltern. Die Folgen sind zu unschön, um hier ausführlich beschrieben zu werden. Mein Magen macht so etwas einfach nicht mehr mit. Und nach meiner nächtlichen Begegnung mit der Keramik schmecken Atemluft und Leitungswasser unerträglich süß - so süß, dass mir allein davon beinahe wieder schlecht wird. Die Kohlensäure beißt im Hals. Zum Glück ist der folgende Tag ein Sonntag. Ich kann aber vorweg nehmen: Dieser Sonntag ist völlig für die Tonne.

Ich ärgere mich. Ein wenig über mich selbst und meine mangelnde Konsequenz, was den Umgang mit Alkohol angeht. Ich weiß ja, dass ich nur wenig vertrage. Vor allem aber ärgere ich mich über die Rollenzuweisung als Spaßbremse, über die verschwindend geringe Akzeptanz des Satzes "Nein danke, ich habe genug!" oder "Ein halbes Glas...!" Der Schwiegervater schenkt mehr nach als gewollt, denn "...da ist ja nur Schaum drin!", und die Schwiegermutter beschwert sich, sie habe ja "niemanden zum Trinken", denn dem Schwager wurde heute die Aufgabe des Familienchauffeurs zugewiesen. Normalerweise ist er derjenige, der problemlos und gewohnheitsmäßig mehr wegsteckt als wir alle zusammen. Meine Schwägerin, die sich ausgebeten hatte, heute diejenige zu sein, die Alkohol trinken darf, trinkt allerdings in den Augen ihres Herrn Gemahl so wenig, dass sich dafür seine eigene Abstinenz nicht lohnt. Also ist er vergrätzt, und diese Stimmung hängt greifbar in der Luft. Seine Frau ist schuld, dass er keinen Spaß haben kann, was er sie auch deutlich spüren lässt. Der Zustand hält an bis zu dem Zeitpunkt, als Schwiegermama vorschlägt, der Familie ein Taxi für die Heimfahrt zu zahlen. Da schleicht sich ein Strahlen auf des Schwagers Gesicht, und er nimmt freudig einen "Absacker" aus Schwiegermutters Hand entgegen.

Als ich das nächste Mal hinsehe, ist das Gesicht meiner Schwägerin tränenüberströmt. Schwiegermama ist betreten, alles ist auf einmal nicht mehr so lustig, und weder Schwager noch Schwägerin haben plötzlich noch Lust auf Alkohol. Sie schauen sich nicht mehr in die Augen und sind beim Kartenspiel sehr still. Als wir alle schließlich aufbrechen, gehen die beiden wortlos.

Mir und meinem Magen geht es noch gut. Zuhause lesen der Gemahl und ich noch ein paar Seiten und knipsen dann das Licht aus. Bis mich der Krieg in meinen Eingeweiden wieder weckt, unsanft, nachhaltig, heftig, und mich daran erinnert, was ich eigentlich von der Sauferei halte: Sie stößt mir so richtig sauer auf.

Für manchen scheint es schwer verständlich, dass es Menschen gibt, die wegen generell äußerst maßvollen Alkoholkonsums nur noch geringe Mengen von dem Zeug vertragen. Wenn ich bei Schwiegers sitze und sage "Ich vertrage es nicht!", dann meine ich das so. Ich trinke nicht jeden Abend. Ich trinke nicht jede Woche. Ich trinke nicht einmal unbedingt jeden Monat. Ich trinke sehr selten. Eine Flasche kühles Radler oder Bier nach der Gartenarbeit oder an lauen Abenden in Gesellschaft. Ein Gläschen von dem erinnerungsbehafteten, ibizenkischen Hierbas, oder wenn im Hause, Single Malt Whiskey oder Gin Tonic, wenn mir wirklich mal danach ist. Mein Leben ist weitestgehend suchtmittelfrei (wenn man einmal absieht von gelegentlichen Schokocroissant- oder Döner-Attacken). Wie langweilig!

Das war nicht immer so. Ich erinnere mich noch gut, wie ausgezeichnet sich Alkohol zur Betäubung ins Bewusstsein drängender Ängste eignet, wie einfach sich Zweifel und Sehnsüchte mit einem Schluck besänftigen lassen. Wie sich hopfenbetäubter Schlaf anfühlt. Ich habe gern gefeiert, mit Kommilitonen und Freunden. Nur irgendwann zog ich das Klar-Sein der zuckerwattigen Betäubung vor und die entspannten Sonntage den verkaterten. Vielleicht, weil mein Fluchtimpuls vor mir selbst weniger drängend wurde.

Mit der Perspektive der Außenstehenden entsetzt mich nun, was ich sehe. Möglich, dass ich vorher zum Sehen gar nicht imstande war. Ich hätte nicht gesehen, wie abartig es eigentlich wirklich ist, wenn eine Gruppe besoffener Freunde inklusive Bräutigam den Abend einer Hochzeitsfeier lallend auf Bierkisten sitzend in einer stinkenden Lache beschließt. Ich hätte nicht gesehen, dass es durchaus bemerkenswert ist, dass kein Treffen zum Frühstück, kein Grillen, kein Kartenspiel in der Schwiegerfamilie ohne den obligatorischen Sekt auskommt. Ich hätte nicht den silbernen Flachmann mit Whiskey gesehen, den sich zehn Minuten vor seiner kirchlichen Trauung der Schwager an die Lippen führte. Alles ganz normal.

Es scheint mir beinahe schon absurd, dass eine Gesellschaft, in der Trinken so akzeptiert und an der Tagesordnung ist, sich tatsächlich Sorgen um Jugendliche mit Alcopops macht. Trinker, Alkoholiker sind immer die anderen. Man selbst ist niemals süchtig, man muss nur zufällig gerade etwas feiern, auf etwas anstoßen, einen fetten Braten verdauen, ein paar Sorgen vergessen, sich entspannen, sich entstressen, neue Nuancen im Abgang des Weins herausschmecken, verköstigen, sich wärmen oder kühlen... Das hat natürlich nichts mit dem Rotnasigen gemein, der jeden Tag im Bus hinter Dir sitzt und der den Alkoholdunst aus jeder Pore atmet, so dass Du Dich umsetzen musst. Wir sind anständige Trinker.

Was, Du willst nichts? Du verträgst nichts? Sag mal, verstehst Du denn keinen Spaß? Willst Du nicht dabei sein? Bist Du plötzlich unter die Asketen gegangen? Willst Du etwas beweisen? Ach, komm, einem schaffst Du doch noch... Prösterchen!

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