Sturmflut
Sonntag, 1. September 2013
Lost in Nederland
Wenn man irgendwohin reist, gleich ob zu Fuß oder anderweitig, dann hat man ja meist auch etwas zu erzählen. Und das ist dann auch schon beinahe der positivste Teil meiner drei Wandertage, aus denen letztlich nur anderthalb wurden. Gestern nach dem Heimkommen war ich zu müde, um irgendwas zu schreiben. Und in den Stunden davor dachte ich nur alle paar Meter: Who the f*** thought this would be a good idea?

Von vorne:

Am Freitagmorgen brach ich guten Mutes auf, die Sonne schien, und ja, der Rucksack war ein bisschen schwer, aber das kannte ich ja auch schon. Außerdem musste das Zelt ja mit, ohne Wenn und Aber. Zuhause hatte ich das Gepäck schon ein bisschen ausgedünnt, auf das Risiko hin, dann doch zu frieren ohne zusätzliche Nachtkleidung. Bereits nach den ersten paar Metern sprach mich eine Spaziergängerin an. "Sie müssen den unteren Weg nehmen, nicht den oberen!" sagte sie und wies auf die vor mir liegende Gabelung. Es stand ja nicht auf meiner Stirn, dass ich eben erst losgegangen war und hier aus der Gegend kam. Wir kamen ins Gespräch, und sie wünschte mir für meine weitere Tour alles Gute.

Beim Kloster auf der anderen Seite des Flusses traf ich auf einen Mann etwa in meinem Alter, der seinen Kombi neben dem Zigarettenautomaten geparkt hatte und laut in sein Handy fragte: "Ja, was für 'ne Sorte willste denn?" Dann fragte er mich, ob ich einen Fünfer wechseln könne, und gerade als ich meinen Rucksack abgesetzt hatte, um nachzusehen, meinte er, die Sache habe sich erledigt. "Gehen Sie mit dem ganzen Gedöns zu Fuß?" fragte er und zeigte auf den Rucksack. Ich bejahte, was mir ein ungläubiges Kopfschütteln eintrug. Er stieg ein, wendete und fuhr davon. Ich meinerseits setzte den Weg fort durch den Wald in Richtung Grenze.

Das Laufen und Tragen ging noch problem-, wenn auch nicht mühelos. Ab und an überholten mich grüßend Radfahrergruppen. An der Grenze kam ich halb auf niederländisch, halb auf deutsch mit einer Dame ins Gespräch, die am Waldrand ihren Dackel ausführte. Obwohl das alles sehr nett war, ließ sich daraus im Anschluss die Lektion des Tages ableiten: Deine Landkarte hat immer recht. Es ist nicht sinnvoll, nach dem Weg zu fragen, nur um eine Zweitmeinung einzuholen, denn die Karte hat immer recht, und wenn du sie lesen kannst, ist alles in Butter. Die Dame mit dem Dackel meinte es gut, verwirrte mit ihren Äußerungen aber mehr, als dass sie klärte.

Auf der Karte war ein Wanderweg verzeichnet, den ich gehen wollte, weil er dem Fluss folgte und nicht wie die meisten Fahrradwege der Straße. Als ich endlich auf diesen Weg stieß, war ich schon eine ganze Weile zwischen Kuhweiden auf asphaltierter Straße unterwegs gewesen. Die Kühe (von denen später noch zu berichten sein wird) zeigten sich äußerst interessiert an meiner berucksackten Erscheinung.



Sie muhten mich an und galoppierten in Scharen auf mich zu beziehungsweise parallel zu meinem Weg am Zaun entlang.



Was genau sie von mir gehalten haben mögen, habe ich nicht herausfinden können, aber ich machte ähnliche Erfahrungen am selben Tag auch noch mit Schafen, die sich mit vorwurfsvollem Blick blökend bemerkbar machten und mit Pferden, die mich anwieherten.

Der Weg am Fluss und einem Seitenkanal erwies sich, obwohl klar als Wanderweg beschildert, leider eher als lediglich gemähte Böschung, was das Gehen besonders mit dem schweren Gepäck äußerst anstrengend machte.



Bei nächster Gelegenheit scherte ich also wieder vom Weg ab und bog in ein Örtchen, in dem ich eine Mittagspause einlegte. Ich war die einzige, die vor der Bakkerij auf den Plastikstühlen auf dem Rasen saß. Erst, wenn man eine Weile gegangen ist, merkt man ja, wie gut es tut, sich auszuruhen. Eltern holten ihre Sprösslinge aus der nahegelegenen Grundschule ab, ein paar Motorradfahrer fuhren vorbei und ein Cabrio, in dem ein Brautpaar saß. Sonst herrschte Stille.

Vom Ort aus ging es nur noch weiter am Straßenrand, das erwies sich als das ernsteste Manko der Etappenplanung. Es geht sich äußerst unangenehm auf Asphalt, selbst Kies- und Schotterwege sind besser, und die vorbeifahrenden Autos bedeuten kein Vergnügen. In sanftem Zickzack zog sich der Weg hin, die Kulisse immer dieselbe: Wiesen, Weiden, Maisfelder, Großbauernhöfe.



Ab und an ein paar Radfahrer. Der Fahrer eines entgegenkommenden, riesengroßen schwarzen Trucks grüßte mich freundlich. Ich zählte die Kilometer, setzte einen Schritt vor den anderen mangels Alternative und stellte fest, dieses Terrain ist für Wanderungen schlicht nicht geeignet. Ich kenne die Gegend natürlich, habe sie aber noch nie aus Wanderersicht betrachtet. Natürlich gibt es schöne Rundwanderwege in den für diese Region charakteristischen Kiefernwäldern, aber das sind eben Rundwanderwege, jenseits der landwirtschaftlich geprägten Gebiete. Nichts für Leute mit 15 Kilo Gepäck auf dem Rücken und einem Tagesziel.

Als ich selbiges erreichte, war ich 20 Kilometer gegangen, und ich spürte jeden einzelnen davon. Im Ortskern mit seinen hübschen Läden, Galerien und Kneipen war die Versuchung groß, sich einfach irgendwo hinzusetzen und eine Kleinigkeit zu essen, ein kühles Bier zu trinken.



Aber ich ging weiter, denn ich wollte am Campingplatz auf keinen Fall zu spät sein, und vor allem wollte ich das Gepäck loswerden. Der Campingplatz war ein sogenanntes "Boerencamping" (Bauerncamping). Bauern vermieten einen kleinen Teil ihres Landes nebenbei als Stellplätze für Caravans und Zelte. Dieses hier war idyllisch gelegen, nett und klein, und ich wurde freundlich begrüßt. Ich konnte mein Zelt an einer efeuberankten Zaunwand aufstellen, die Bäuerin zeigte mir die sanitären Anlagen und kassierte schließlich für meinen Aufenthalt 6,50 €. Alles in allem machte das einen guten Eindruck auf mich, und das Zelt war schnell aufgebaut.



Ich setzte mich in einen entliehenen Plastikstuhl, biss ins Brötchen und las ein paar Seiten, da kam meine Nachbarin, eine Hälfte eines im Caravan wohnenden älteren Ehepaares und fing ein Gespräch an. Wir unterhielten uns sehr nett. Aus Groningen kamen sie, wollten noch die letzten Sommertage genießen und mit den Fahrrädern die Gegend erkunden.

Später sah ich die beiden vor ihrem Camper sitzen, wie sie sich bei einem Glas Wein leise unterhielten, und ich beneidete sie ein bisschen. Um die gegenseitige Gesellschaft, die sie sich waren, um den Wein, um den heißen Tee, den sie vorher getrunken hatte, um den Komfort ihres Caravans. Mein Zelt kam mir dagegen ziemlich einsam vor, und mit einem Mal vermisste ich meinen Mann so dermaßen, dass mir die Tränen kamen. Ich bin sonst nicht sentimental, was das betrifft, aber in diesem Moment fühlte ich mich einfach nur verloren. Ich beschloss, dem Tag ein Ende zu machen und mich ins Zelt zu verkriechen und ging mir die Zähne putzen. Im Sanitärgebäude guckte mir aus dem Spiegel eine müde, tränenüberströmte und leicht sonnenverbrannte Gestalt entgegen, von der ich einen Moment lang beinahe nicht wusste, wer sie war.

Zurück im Zelt schrieb ich dem Gatten eine SMS und legte mich dann hin. Das Nachtlager erwies sich zu Beginn als recht angenehm. Ich wollte noch lesen, so lange es das Tageslicht erlaubte, in der Hoffnung, dass bald das Gelärme der Landmaschinen hinter dem Zaun enden würde. Dort schob ein schwerer Traktor Silage hin- und her, das Quietschen der Schaufel und das Dröhnen des Dieselmotors waren beinahe unerträglich. Aber ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass auch Bauern einmal schlafen gehen würden, selbst zur Erntezeit. Irgendwann wurden die Maschinen abgestellt. Das war der Zeitpunkt, als die Kühe ins Spiel kamen. Mit der Stirnlampe auf dem Kopf, auf den Ellenbogen gestützt, hatte ich noch gelesen bis kurz nach zwölf, aber die Kühe im Stall direkt hinter dem Zaun hielten nichts von Nachtruhe. Ich war inzwischen richtig müde, klappte das Buch zu, schaltete die Lampe aus und versuchte zu schlafen. Die Geräusche der Kühe hielten mich wach.

Wie man es aus TV-Berichten über Landwirtschaft so kennt, standen auch diese Kühe mit den Köpfen in einem Gatter und waren dort mit irgendwelchen metallischen Vorrichtungen festgemacht. Sobald sich eine bewegte, knallte laut Metall auf Metall, und ich war wieder wach. Das passierte etwa im Fünf-Minuten-Rhythmus. Hinzu kam das ganze Repertoire anderweitiger Kuhgeräusche. Man hört sie verdauen, wiederkäuen, man hört sie blubbern und rülpsen, furzen und sturzbachartig pinkeln, man hört sie muhen, scharren, scheuern, stampfen und schlagen. An Schlaf war nicht zu denken, und nach einer halben Nacht ist das auch nicht mehr halb so lustig, wie es zuerst klingt. Ich versuchte mir Watte oder Taschentücher in die Ohren zu stecken, was nicht den geringsten Effekt hatte. Dazu kam, dass sich meine Schlafmatte zwar als gut isolierend, aber dennoch deutlich zu dünn erwies, so dass ich irgendwann nicht mehr wusste, wie ich liegen sollte, ohne dass es weh tat. Ich hoffte auf Schlaf, der nicht kam. Aus meinem längsten Schlafabschnitt, der vielleicht eine Dreiviertelstunde gedauert hatte, wurde ich durch jähes, metallisches Knallen wieder herausgerissen. Die Dauer einer Nacht nur mit Warten zu verbringen, ist äußerst mühselig und zermürbend, aber das war es letztlich, was ich tat. Gefroren - wie befürchtet - habe ich in dieser Nacht nicht, aber statt dessen waren Dinge eingetreten, an die ich überhaupt nicht gedacht habe. Mit den Geräuschen einzelner Wildtiere hatte ich gerechnet, aber nicht mit denen einer ganzen Kuhherde.

Um kurz vor sechs erklärte ich die Nacht für beendet, packte meinen Kram in den Rucksack und ging ins Sanitärhaus, um mich einigermaßen zu sortieren. Das Zelt hatte ich im angrenzenden Schuppen ausgebreitet, der für die Fahrräder der Gäste gedacht war, damit die vom Kondenswasser feuchte Außenhülle trocknen konnte. Ein belegtes Brötchen und einen Molkeriegel später schulterte ich mein Zeug, hinterließ einen trotz allem wohlwollenden Eintrag im Gästebuch und ging.

Noch so eine Nacht wollte ich nicht verbringen, und selbst, wenn das nächste Boerencamping keinen Kuhstall direkt neben meinem Zelt haben sollte, stand es außer Frage, noch einmal auf der dünnen Matte zu schlafen. Die Defizite der letzten Nacht würde ich so auf keinen Fall aufholen können, und dann würden die folgenden Wegabschnitte nicht den geringsten Spaß mehr machen. Ich entschloss mich zur Heimreise. Der Morgen war sehr still, und ich gönnte mir noch einmal einen Blick ins Tal, bevor ich mich auf die Suche nach einer Bushaltestelle machte.



Im Ortskern hatte bereits ein Eetcafé geöffnet, dort bekam ich eine Tasse Kaffee und die Information, dass ich, um mit dem Bus in den grenznächsten Ort zu kommen, einen Umweg über eine andere Stadt würde machen müssen. Das machte mir allerdings wenig aus in Anbetracht dessen, dass ich nicht nach hause würde laufen müssen. Die Busse fuhren stündlich, und ich hatte noch etwas Zeit. Ich schlenderte durch den Ort und sah in die Schaufenster der noch geschlossenen Läden, als neben mir ein älterer Mann mit seinem Fahrrad bremste und mich kurzerhand auf eine Tasse Kaffee einlud. So kam ich an diesem Morgen zu einer weiteren Begegnung und einer weiteren Tasse Kaffee. Er habe einen Hof südlich des Ortes, erzählte der Senior, und er sei nur kurz hier "...om de krant te kopen!" Etwas später stieg er wieder auf sein Rad und ließ mich winkend zurück.

Auf dem Weg zur Bushalte begann es zu regnen, und ich bereute meine Entscheidung nicht im geringsten. Der überaus freundliche Busfahrer erklärte mir ganz genau, wie ich umsteigen musste, stieg dort noch einmal mit mir aus, um die Zeit für den Anschlussbus herauszufinden und wünschte mir sehr herzlich "Goede reis!". So rollte ich schließlich schnurstracks Richtung Grenze. So etwas wie grenzüberschreitenden Busverkehr gibt es nun leider nicht in meiner Gegend, also musste ich noch einmal rund viereinhalb Kilometer über die Grenze laufen, um den Stadtbus nach hause zu erwischen. Diese letzten Kilometer waren unglaublich lang, ich musste mich zu jedem Schritt entlang der Straße auf dem Radweg zwingen, und auf dem letzten Kilometer begann es heftig zu regnen. Ich war beinahe zu müde, um mich über den Anblick des Bushäuschens richtig zu freuen.

Zuhause kramte ich dann zuerst das Zelt aus dem Rucksack, um es noch einmal zum Lüften auszubreiten, dann fiel ich aufs Sofa und ins Koma. Den Rest des Tages habe ich wie in einem Nebel zugebracht. Ich erinnere mich noch vage daran, ein paar Einkäufe getätigt zu haben. Schließlich durchwärmte ich die schmerzenden, müden Glieder in der Badewanne und kroch dann früh am Abend ins Bett.

Das Fazit: Es hätte eine schöne Tour werden können, aber wiederholt wird so etwas nur unter diversen zu berücksichtigenden Gesichtspunkten. Erstens muss ein entschieden leichteres Zelt her, zweitens eine bessere Schlafmatte (mindestens eine aufblasbare Thermomatte, auch wenn mir Therm-a-rest eigentlich immer zu teuer war). Drittens ist es sinnvoll, doch eher auf traditionelle Wandergebiete zu setzen, hierzulande wird einfach mehr Rad gefahren, was die Wege betreffend einen deutlichen Unterschied macht. Und viertens: Nie wieder Boerencamping. Zumindest aber hinreichender Abstand zum Kuhstall. Fünftens ist es ganz gleich, ob Wandern Mühe kostet, schmerzhaft ist oder anstrengend, es ist auf jeden Fall ein Garant für nette Begegnungen und ein linderndes Mittel gegen Misanthropie.

Den Rest des Sonntages nutze ich zur Erholung von der Erholung.

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