Sturmflut
Samstag, 7. September 2013
Eine Erinnerung
Kürzlich schloss ich die Augen und fand mich unversehens im schönsten Garten meiner Kindheit wieder. An diesen Garten erinnerte mich bereits den ganzen Sommer lang der süße Duft der Nektarinen, die ich ab und zu gekauft hatte. Immer wieder erstaunt mich die intensive Verknüpfung von Düften mit längst vergangenen Erlebnissen.

Der besagte Garten lag in einem langgezogenen Tal in Südtirol, gerade auf der Grenze, an der sich alpiner und mediterraner Einfluss in diesem Landstrich vermischen, und war über mehrere Terrassen an einem Hang angelegt. Von dem kiesbestreuten Hof ganz unten gelangte man über mehrere Treppen immer eine Etage höher. Nah am Hauseingang, bereits eine Treppe hoch, stand auf einer Kiesfläche unter Kiwiranken eine quietschende Hollywoodschaukel, auf der ich für mein Leben gern saß als Kind, mit einem Buch, oder später als Teenager mit meinem Cassettenwalkman, in Gedanken versunken. Unzählige verschiedene Katzen aus der Nachbarschaft fanden sich hier ein, strichen einem beiläufig um die Beine, balancierten auf der verputzten Mauer oder schliefen auf den warmen Steinplatten. In jedem Feriensommer waren es wieder andere.

Die nächste Treppe führte auf eine Rasenfläche, und am rechtsseitigen Ende des Gartens lagen die Gemüsebeete der Wirtin mit Tomaten, Zucchini und Salat, dazwischen ein betonierter Weg. Aus Bewässerungsrohren versprühten orangefarbene Plastikdüsen nebelfein ihr Wasser, und ich erinnere mich an den sanften Schauder, wenn die zeitgesteuerte Bewässerung gerade dann einsetzte, wenn man barfüßig am Beet vorbeilief. Auf der anderen Seite eine Weinlaube, unter der man vortrefflich sitzen konnte, zum Kartenspielen oder beim Grillen. Der Boden war bestreut mit feinen, spitzen Steinchen, die sich in die nackten Sohlen bohrten, wenn man wieder einmal die Latschen vergessen hatte. Hinter der Weinlaube lag eine Bocciabahn, am Ende begrenzt von massigen, roten Findlingen und einem Dickicht aus Esskastanien, und es gab eine Schaukel, die einem das Gefühl gab, zu fliegen, schon allein deshalb, weil sie am Hang lag.

Wieder eine Etage höher gab es eine Holzhütte, in der Liegestühle an der Wand lehnten und in der man sich umzog, wenn man in das Schwimmbecken wollte. Hin und wieder vergaß ein Gast hier sein Bikinioberteil oder ein Buch, oder eine Flasche Sonnencreme. Vor der Hütte stand ein mit Wachstuch belegter Tisch mit Stühlen und einer hölzernen Bank. Von hier aus konnte man über das Tal sehen, auf das gegenüberliegende Bergmassiv mit dem Weiß- und dem Schwarzhorn.

Das Schwimmbecken erlaubte drei oder vier lange Schwimmzüge und war so tief, dass ein Erwachsener gut stehen konnte. In der Dämmerung schwirrten über der Wasseroberfläche die Fledermäuse, was es immer ein bisschen unheimlich, aber auch aufregend machte, abends noch zu baden. Das Becken war umgeben von einem Hain aus Obstbäumen, hier wuchsen Aprikosen, Pflaumen, Pfirsiche und Nektarinen, die wir uns einfach pflücken konnten, wenn uns der Sinn danach stand. Über die warmen Steinplatten liefen Eidechsen und klebten senkrecht an den verputzten Mauern.

Spannend-paradiesisch war aber nicht nur der Garten, sondern auch das eher inoffizielle Drumherum. Überall gab es geschotterte Pfade, einer führte zum Kaninchenstall ganz am oberen Ende des Gartens, ein anderer zwischen den Esskastanien hindurch, die so dicht waren, dass niemand einen sah, wenn man sich dort entlangschlich.

Wieder ein anderer dieser Pfade endete in dem gewaltigen Geröllfeld aus roten Porphyrfindlingen, das an das Grundstück angrenzte und das wir als Niemandsland bezeichneten. Dieses Niemandsland zog mich magisch an. Ich probierte aus, wie weit ich über die Felsen hinweg klettern konnte, unter den Fingern das rauhe Gestein. Es verursachte einen warmen Dreher im Magen, für einem Moment nicht zu wissen, wie man zurückkommen würde, aber schließlich doch wieder Halt für die Füße zu finden. In diesem Geröllfeld-Niemandsland mit seinen übermannsgroßen Felsen verschwand ich für Stunden und blieb manchmal einfach nur irgendwo sitzen, beobachtete die Eidechsen und hing meinen Gedanken nach.

Wenn ich die Augen schließe, erinnere ich mich in allen Details an diesen wunderbaren Garten meiner Kindheit. Ich höre das Geräusch der Filteranlage am Schwimmbecken mit dem monotonen Klappern des Wasserdurchlasses. Ich höre das Knirschen der Kiesel unter den Sohlen. Ich spüre die Hitze der roten Steinplatten und sehe zu, wie das gechlorte Wasser des Schwimmbades binnen Minuten auf ihnen verdunstet. Ich rieche die Rotweinschorle, die wir aus einfachen Gläsern am oberen Tisch sitzend tranken. Ich sehe das helle Gelb der Löwenmäulchen im Beet an der Mauer, das in der Dämmerung beinahe leuchtete. Ich höre meine eigenen Schritte auf den Treppenstufen und fühle unter meinen Fingern das sonnengegerbte Holz des Lattenzaunes, der die obere Terrasse begrenzt.

Ich war beinahe jeden Sommer dort, seit ich zwei Jahre alt war bis zum Jahr meines Schulabschlusses. Dieser Garten ist inzwischen ein Ort in meinem Herzen, in meiner Phantasie zusammengeschmolzen aus den Erinnerungen all dieser Jahre. Ich würde ihn vermutlich nicht mehr antreffen, wenn ich jetzt dorthin führe - weil ich mich verändert habe, weil sich der Ort verändert hat. Aber das spielt keine Rolle, denn dieser Garten ist ein Teil von mir und überdauert wie ein Juwel. Noch viele solcher Erinnerungen an andere Orte werden dazukommen, aber diese bleibt.

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