Sturmflut
Samstag, 21. März 2015
Wie wird es sein?
Meistens, wenn ich frei heraus sage, dass ich mir Gedanken über das Leben im Alter mache, ernte ich Stirnrunzeln und die Bemerkung, ich sei doch noch so jung, darüber brauche man doch nicht nachzudenken. Stimmt natürlich, 38 ist "kein Alter", und es liegt vermutlich noch eine ziemlich lange Zeit vor mir, in der ich mir um Gebrechen und Hindernisse keine Sorgen zu machen brauche.

Dennoch ist jetzt allmählich der Zeitpunkt gekommen, dass ich meine Eltern altern sehen würde, wenn ich sie denn sehen würde, und ich sehe meinen Schwiegervater. Nach dessen letztem Schlag- und Krampfanfall macht Schwiegermutter Umzugspläne. Die beiden wohnen in einer hübschen Wohnung mit Balkon, knarzenden Fußböden und einem Spitzboden, der sich ausgezeichnet zur Aufbewahrung von allerhand Besitztümern und zum Trocknen der Wäsche eignet. Dazu gehört ein kleiner Garten mit Pavillon, wo man wunderbar in der Sonne sitzen kann. Aber beim letzten Notruf brachte die Feuerwehr den Schwiegervater per Hubbühne über den Balkon herunter. Die schmale Treppe war einfach zu steil für die Sanitäter mit ihrer Trage. Und sie ist inzwischen auch zu steil für Schwiegervater selbst, der zunehmend unsicher auf den Beinen ist.

Was ist also die Perspektive? Eine barrierefreie Zwei-Zimmer-Wohnung mit Aufzug, Balkon und Kellerabteil, möglichst innenstadtnah. Schwiegermutter ist eher ein pragmatischer Mensch, sie wird wohl nicht ganz so sentimental sein wie ich. Aber mir fällt es schwer, mir das vorzustellen. Kein Strandkorb mehr im Garten. Vielleicht kein Platz mehr für die unzähligen Bücher, die sich in ihrem Besitz befinden. Statt dessen Handgriffe an der Wand, schwellenlose Türen, ein Sitz in der Dusche.

Wir sind die nächste Generation, und ich frage mich, wie das Leben aussieht, das wir leben werden, wenn wir alt sind. Noch befindet man sich als Thirtysomething oder auch Mittvierziger in einem Zustand, in dem man glaubt, alles im Griff zu haben. Zugegeben, der eigene Körper ist keine zwanzig mehr. Aber der Glaube an die Möglichkeit der Selbstoptimierung ist noch ungebrochen, die ersten Verschleißerscheinungen verdrängt man, und man ist sich sicher, dass man diese ganzen Gebrechen, die das Alter mit sich bringt, vorbeugenderweise vermeiden kann. Durch den Sport, mit dem man morgen anfängt. Schwiegervater war übrigens Zeit seines Lebens ein leidenschaftlicher Schwimmer.

Ich denke nach über die Gegebenheiten unseres Hauses. Aber auch über die Beschaffenheit unserer Konten. In der "Zeit" fand sich, ganz im Sinne der Ansprüche einer gehobenen Elite, eine Anzeige, in der die Pflege im eigenen Appartement beworben wurde. Ganz bedarfsgerecht, ganz frei wählbar, ganz ohne dass man seine eigenen Wünsche an die Gestaltung des Lebens unterordnen müsste. Hübsche Vorstellung. Wenn man das nötige Kleingeld besitzt. Mir als beruflicher Spätstarterin und Noch-Auszubildenden kommt diese Perspektive reichlich unrealistisch vor. Zumindest für die Mehrheit meiner Altersgenossen, die sich mit befristeten Arbeitsverträgen und schmalen Gehältern herumzuschlagen hat. Aber gut, die "Zeit" und ihre Werbekunden sprechen ohnehin ein anderes Publikum an. Dasjenige nämlich, das sich seine altersgerechte Wohnung mit Mobiliar und Accessoires aus dem Manufaktum-Katalog wird einrichten können und den Service frei dazu wählt, wie die Bedürfnisse gerade kommen.

Ich sehe vor meinem inneren Auge ein anderes Altern. Es spitzt sich erbarmungslos zu auf eine Hölle aus linoleumbelegten, langen Gängen mit Handläufen an der Wand, desinfizierbaren Möbeln in 15-Quadratmeter-Zimmern und drei Familienfotos, die gerahmt an Rauhfasertapetenwänden hängen. Vielleicht eine Handvoll persönlicher Nippes dazu - nichts, was nicht nach dem Ableben in eine Garage passen würde. Und du weißt, je weiter oben das Stockwerk liegt, in dem du "lebst", um so näher bist du dem Friedhof. Das Highlight des Tages ist der Waldmeister-Wackelpudding zum Nachtisch. Ich habe den Verdacht, wenn mich das Altern in einigen Jahrzehnten treffen wird, sieht es vielleicht nicht einmal mehr so rosig aus.

Wie also will ich leben, wenn ich altere, alt werde, alt bin? Das ist eine schwierige Frage. Die romantische Alten-WG aus dem ZDF-Fernsehfilm wird es nicht geben. Wir werden uns keine Villa am Stadtrand leisten, in der die verkannte Künstlerin unter uns mit hennagefärbtem Grauhaar in wallenden Zwanzigerjahre-Kleidern über zerschlissene Perserteppiche wandelt und beim mehrmals im Sommer stattfindenden, obligatorischen Gartenfest am Piano sitzen wird.

Was habe ich, was haben die Angehörigen meiner Generation dem ökonomischen Zwang entgegenzusetzen, der Altern und Pflegebedürftigkeit eiskalt rationalisiert? Ich bezweifle die Richtigkeit der Aussage, Menschen würden im Alter zwangsläufig wieder zu Kindern. Ich denke, die Umstände machen sie dazu. Ein autonomer alter Mensch passt nicht ins Gefüge, weil ihn seine körperliche und mitunter auch geistige Angewiesenheit und Abhängigkeit angreifbar machen. Da haben Wünsche, Ansprüche, Fähigkeiten und Persönlichkeit nur noch wenig Platz. Das treibt mich um.

Habe ich überhaupt irgendeine Art von Gestaltungsspielraum? Ich kann mir selbstverständlich felsenfest vornehmen, gesund zu bleiben. Das ist prinzipiell kein schlechtes Vorhaben, und es wird unter Umständen meine Lebensqualität erheblich verbessern, auch und vor allem in der Hinsicht, dass Gesundheit die Abhängigkeit von anderen reduziert und Freiheit gibt. Alter ist nicht gleichzusetzen mit Krankheit. Dennoch: Auch das straffste Sportprogramm, die ausgewogenste Ernährung und beste Pflege werden nicht verhindern können, dass ich alt werde. Dass ich irgendwann darauf angewiesen bin, dass jemand, der mir wohlgesonnen ist, meine Wünsche bezüglich der Gestaltung des eigenen Lebens respektiert, obwohl ich lediglich noch ein Kostenfaktor, eine Last sein werde - nach ökonomischen Gesichtspunkten.

Wie will ich leben? Wer will ich sein im Alter? Die Vorstellung, friedlich auf der Bank hinter dem eigenen Haus in der Sonne zu sitzen, etwas mit den eigenen Händen, dem eigenen Geist und der eigenen Stimme zu tun und die Freiheit zu genießen, mir genau das Umfeld zu erhalten, das ich mir in meinem Leben aus meinen inneren Wünschen heraus geschaffen habe, ist utopisch.

Ich hoffe von Herzen, dass diese Vorstellung nicht utopisch bleiben wird. Aber ich bin da pessimistisch, und ich habe noch keine Antwort auf die Frage, inwiefern ich Einfluss nehmen kann.

Man propagiert die private Daseinsvorsorge für das Alter, damit Leben und Pflege auch dann noch sichergestellt sind, wenn man selbst nichts mehr erwirtschaftet. Der Platz meiner Großmutter im Heim ist bezahlt, ihr Dasein ist also gesichert.

Aber letztlich ist der Mensch mehr als das reine Dasein. Ich frage mich, was meine Großmutter getan hätte, wenn sie hätte tun können, was sie wollte, als sie es noch konnte. Vielleicht hätte sie auf der Mandoline gespielt wie früher als junges Mädchen, anstatt im Stuhlkreis Volkslieder abzusingen. Ich stelle mir die Frage, wann die Notwendigkeiten einen Menschen so sehr von sich selbst entfremden, dass er verkümmert zu einem Objekt. Auf der Liste wird im Minutentakt abgehakt: Kämmen, Waschen, Anziehen, Essen. Check. Es raubt die Persönlichkeitsrechte. Mit Würde hat das nichts zu tun.

Ich wünsche es mir anders. Ich hoffe, so lange mein Geist und Herz noch funktionieren, komme ich auf eine gute Idee, wie ich es auch anders machen kann.

Permalink



... früher