Sturmflut
Samstag, 5. September 2015
Ach Du liebe Zeit...!
Die Zeit titelt diese Woche mit der Schlagzeile "Was man nicht mehr sagen darf. Ein paar Handreichungen gegen den Gesinnungsterror."

Ach, Du liebe Zeit!

Erstens: Ich halte es für äußerst unklug, gerade jetzt einen Artikel mit solchen Begrifflichkeiten zu überschreiben. Denn Sätze wie "Das wird man ja wohl noch mal sagen dürfen!" kommen bekanntermaßen bevorzugt aus den Mündern derer, die in der letzten Zeit Asylanten und Flüchtlinge "kritisieren" oder sich anderweitig gegen die Errungenschaften einer demokratischen und freiheitlichen Gesellschaftsordnung wenden. Und "Gesinnungsterror"? Das ist jetzt nicht Dein Ernst, liebe Zeit!

Paradox daran ist auch, dass jegliche Kritik an diesem journalistischen Fehlgriff nur die These befeuert, man dürfe eben nicht mehr alles sagen. Selten war eine Artikelschreiberin mit so viel Schwachsinn argumentatorisch so sehr auf der sicheren Seite.

Zweitens: Es ist nicht mehr als eine These, die Iris Radisch da für die Zeit verbreitet. Es ist ein einziges wehleidiges Gejammer über einen lediglich gefühlten Zustand. Radisch selbst schreibt, es ginge dabei nicht um Fakten, sondern um eine Stimmungslage. Dann sollte sie aber auch nicht schreiben, man dürfe bestimmte Dinge nicht mehr sagen. Und mit Verlaub, von Terror kann überhaupt nicht die Rede sein.

In diesem Land herrscht Meinungsfreiheit. Sowohl Iris Radisch als auch alle anderen Menschen dürfen alles sagen. Sie haben nur kein verbrieftes Recht darauf, dass niemand protestiert, niemand kritisiert und alle applaudieren. Das ist natürlich eine enorme Kränkung. Wenn sich die gesellschaftliche Stimmung dahingehend ändert, dass die Menschen sensibler auf die Diskriminierung von Minderheiten reagieren, dann muss sich mancher sagen lassen, dass man ihn (oder sie) für einen Rassisten, Sexisten, Lookisten, Ableisten oder was auch immer hält. Das dürfte manchen nicht schmecken.

Da ereifert man sich dann über übertriebene Political Correctness (kurz PC, von Frau Radisch aus vielleicht nicht so weit hergeholtem Grund auch als Public Correctness interpretiert), die die Freiheit der Rede beeinträchtige. Radisch macht auch einen Schuldigen aus: den "vollständig austauschbaren Bürobleichling" mit seinem "Zustimmungsgelaber". Oh, da liest jemand aber wahnsinnig gern das eigene Geschriebene.

Die von Radisch zitierten, aus dieser Masse der Wohlfühlmeinungen herausstechenden angeblichen Tabubrüche von Leuten wie Thilo Sarrazin sind dabei gar keine solchen, sondern nur larmoyantes Genöle aus Furcht vor dem Verlust des eigenen Status. Damit sind sie kein Stück anders als diejenigen, deren Haltung der Artikel kritisiert.

Alles in allem erinnert (nicht nur) mich das Geschreibsel an Harald Martensteins Kolumne. Dort hält sich ein alternder, spätgebärender Journalist für unglaublich originell und anti-mainstream, weil er sich die guten alten Zeiten zurückwünscht und merkt, dass er damit bisweilen aneckt. Gähn! Wenn das unter dem Stichwort "Journalismus" läuft, dann müssen sich die Zeitungen über ihre wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht wundern. Mir haben meine Eltern das Abo für die Zeit geschenkt. Aber mein Bedarf sinkt stetig, wirklich Kluges habe ich schon länger nicht mehr gelesen.

Damit reiht sich die Wochenzeitung eben genau in die Masse ein, die Radisch so übertrieben wortgewandt kritisiert. Artikel wie ihrer sind geistiger Grießbrei, fade und uninspiriert und weit davon entfernt, so etwas wie eine Diskussionskultur wieder zu beleben. Im Gegenteil, da wird bloß noch den vage "gefühlsmäßig" wahrgenommenen Gesellschaftsströmungen nachgeplappert, um die Verkaufszahlen zu steigern.

Außerdem ist es leicht, dem "Bürobleichling" angepasste "Angestelltenidiotie" vorzuwerfen, wenn die eigene Zielgruppe sich ein paar Etagen höher bewegt. Da werden sich die Leser auf jeden Fall wohlfühlen. Das ist etwas, das mir schon lange an der Zeit stinkt - dieses arrogante Besserverdienergehabe, mit dem das Blatt sich meilenweit über die profanen Probleme des Mobs erhebt. Die sind ihr eine Nummer zu nah am Boden. Zu den größten Sorgen der akademisch gebildeten Zeit-Leserschaft gehört offensichtlich, was sie sich als nächstes aus dem Manufactum-Katalog aussuchen soll.

Voll daneben, liebe Zeit. Dauert nicht mehr sehr lange, dann sind wir geschiedene Leute. Schon allein, weil Du Dir nicht zu schade dazu bist, Dich rechts rüberzulehnen. Deutlich zu weit für meinen Geschmack.

Das wird man ja noch mal sagen dürfen!

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