Sturmflut
Gier
Mag sein, dass ich in der Vergangenheit naiv war. Ich habe "We feed the World" gesehen - das ist schon etwas her - und natürlich hatte ich die Bilder von Hühnertötungs-Fabriken und Brütereien zwischenzeitlich ebenso verdrängt wie die Intro-Sequenz, in der gezeigt wird, wie LKW-Ladungen voll Brot einfach weggekippt werden - alles noch frisch, verzehr- und verkaufsfähig. Neulich gönnte ich mir ein Update des Films und stellte dann auch zufällig fest, dass die ARD gerade diese Woche eine Themenwoche "Essen ist Leben" zu sehen gibt. Also ging mir viel Nahrung durch den Kopf, und mal wieder schlich sich das Entsetzen dabei nicht durch die Hintertüre herein, sondern traf mich eher mit dem Holzhammer.

Letzten Endes lief die Dokumentation der Lebensmittel-Misere auf zweierlei Schlüsse hinaus. Erstens: Das Bild vom idyllischen Landleben hat schon längst nichts mehr mit der Realität zu tun (auch wenn in der Werbung immer noch kernige Mädels in Dirndln dekorativ sahnige Milch aus großen Kannen einschenken). Lebensmittelproduktion ist eine hochindustrialisierte Angelegenheit, und wie alle Industrien legt es auch die Lebensmittelbranche vor allem auf eines an, nämlich auf Gewinnmaximierung. Zweitens: Der Verbraucher ist ein großenteils geschmacksnervlich degenerierter Idiot (ich schließe mich mit ein), der eigentlich gar nicht mehr wissen kann, wie was schmeckt und was er mögen würde, und nur noch auf Zucker, Fett und Glutamat anspringt. So lange es ausreichend würzig oder süß ist, ist es ihm egal, was er isst. Hauptsache, es ist billig.

Ein solcher Konsument kommt der Lebensmittelindustrie entgegen, die alles rechtfertigt mit dem Satz "Die Verbraucher wollen das so!" Ganz Unrecht haben die Produzenten damit nicht, auch wenn sie sich den so gearteten Konsumenten selbst gezüchtet haben wie ein Hybridschwein. Wir sind vor allem bequem, verwöhnt und denkfaul und auf bestimmte Essensmuster konditioniert. Wir sind unseren Überfluss so gewöhnt, dass wir jammern wie die kleinen Kinder, wenn im Regal mal nur vier statt zehn Schnittkäsesorten stehen und abends beim Bäcker nur noch das einfache Graubrot übrig ist. Und weil wir jammern wie die kleinen Kinder, sehen sich die Produzenten dazu eingeladen, uns abzufüttern mit dem, was sie unterm Tisch zusammenfegen. Komisch eigentlich, dass man sich hierzulande immer wieder echauffiert über Gammelfleisch im Döner, Adipositas bei Kindern und Jugendlichen und Allergien aller Art.

Stimmt, wir werden getäuscht, aber wir werden es gern. Wir lassen uns auch täuschen. Wir fressen nicht nur fraglos, was man uns auf den Teller legt, wir wollen auch noch gute Gründe dafür haben, und die liefern uns die Lebensmittel-Hersteller gleich dazu. Wieso sonst müsste man sich krampfhaft einreden (lassen), dass Süßigkeiten als Vitaminquelle taugen, man mit Fertigsuppen abnehmen kann, dass gezuckerte Milch der Immunabwehr dient und Margarine den Cholesterinspiegel senkt?

Das alles könnte man billiger und besser haben, aber das erfordert einige Kenntnis im Bezug auf Eigenschaften und Verarbeitung von wirklichen Nahrungsmitteln und zudem Zeit. Das verlangt Auseinandersetzung mit der Materie.

Wir aber wollen alles, was wir wollen, sofort und ohne Mühe, und wir wollen die Illusion der freien Wahl. Also wollen wir im Prinzip auch, dass unsretwegen Vögeln die Schnäbel gekürzt werden. Wir wollen, dass man tonnenweise Brot wegwirft. Wir wollen, dass man Erdbeergeschmack aus Sägespänen nachbaut und wir wollen, dass man nur noch eine Sorte Schwein züchtet (dessen helle Borsten in der Wurst nicht so auffallen). Weil alles das, was auf diese Weise erzeugt wird, doch so wunderbar bunt und süß ist. Und so einfach zu haben.

Das große Problem ist, dass es den meisten gar nicht klar ist, dass diese Zusammenhänge existieren. Erst einmal ist es nur wichtig, dass die Schachtel Wurst im Supermarkt nur 70 Cent kostet, und schlecht schmeckt sie ja nicht - dafür wurde gesorgt.

Die Lebensmittel-Industrie ihrerseits hat nicht das geringste Interesse an Aufklärung. Ein denkender Konsument ist der ganzen Maschinerie nicht förderlich. Im Gegenteil. Der Käufer soll impulsiv sein, spontan, seinem Appetit nachgeben. Er soll immer noch ein bisschen mehr ins Körbchen legen. Am besten von den Dingen, die in der Herstellung nicht viel kosten, aber als schickes, nützliches, gesundes Produkt unter großem Namen verkauft werden können.

Irgendwo findet aber auch das pauschale Wort "Der Käufer will das so!" sein Ende. Ich habe zum Beispiel nichts gegen krumme Gurken. EU-normierte Salatgurken sind das Ergebnis einer Massenvermarktung, denn nur die geraden Exemplare passen in die Kiste. Nur so lässt sich effizient transportieren. Viel. Auf einmal. Stellt sich mir die Frage: Sind wir zu viele auf diesem Planeten? Lässt sich die Ernährung der Bevölkerung nur noch auf diese Weise regeln? Muss ich, weil ich Teil der Masse bin, mich mit den begradigten Gurken arrangieren?

Ich glaube nicht. Vielleicht lässt sich biologische Erzeugung und artgerechte Tierhaltung schlicht nicht auf Massen-Niveau verwirklichen. Aber so ganz hilflos bin ich doch nicht. Zutatenlisten lesen kann man lernen. Man kann sich kritisch fragen, was dieser oder jener Zusatzstoff in meiner Nahrung zu suchen hat, und sie im Zweifel stehen lassen. Man kann sich informieren, woher Obst und Gemüse stammen, man muss sich sein Essen nicht vom anderen Ende der Welt herkarren lassen (so gern ich auch Braeburn-Äpfel mag).

Was mich wieder zum Wollen zurückbringt. Niemand ist gezwungen, den Schund zu essen, der bei uns in den Regalen steht. Es ist unsere Gier und Bequemlichkeit, die dafür sorgt, dass die Maschine sich weiter dreht und am anderen Ende der Welt Menschen hungern und verhungern. Hierzulande werden Menschen dick, unruhig, krank von Nahrungsmitteln, die diesen Namen nicht einmal verdienen. Und die Gier derjenigen, die an den Hebeln dieser Maschinen sitzen, ist grenzenlos. In Ländern, in denen es Essen im Überfluss gibt, werden sie nicht müde, uns Hunger auf Abfall zu machen, damit sie verkaufen können.

Mein nächster Einkaufsgang geht auf den Wochenmarkt mit Einkaufsliste. Es ist zumindest ein Anfang, auch wenn ich glaube ich noch viel zu lernen habe.