Dammbruch
Am 5. Apr 2012 im Topic 'Deckschrubben'
Da stehen sie jetzt, mit Schildern, auf denen steht:
"Es tut uns Leid!"
"Ihr seid herzlich willkommen!"
Kollektivem Hass folgt jetzt das kollektive schlechte Gewissen.
Mit knapp 52.000 Einwohnern ist Emden ein Kaff, in dem sich Leute kennen und wissen, wer wo wohnt, wie wer heißt, wie wessen Geschwister, Eltern und Freunde heißen, woher jemand kommt und wohin jemand geht. Damit unterscheidet sich Emden wahrscheinlich nicht von anderen Städten in Deutschland. Ehrlich gesagt glaube ich auch nicht, dass es sich sonst groß unterscheidet.
Ich glaube, in jeder Stadt gäbe es Leute, die zur Lynchjustiz aufriefen, wenn sich ihnen die Gelegenheit dazu böte. Ich mache mir keine Illusionen darüber, wie die Menschen ticken. Sobald jemand kommt, der die passenden Worte wählt und die Wut in den Leuten weckt, schürt und schließlich legitimiert, greift man sich die sprichwörtliche Heugabel und geht Häuser anzünden.
Ich habe viel darüber nachgedacht, ob ich schon wieder einen Beitrag über den Volkszorn verfassen will. Ich weiß, dass ich mich wiederhole, aber es bewegt mich immer wieder aufs Neue, was in den Menschen wohl vorgehen mag, dass sie derart den Verstand verlieren. Das Thema trieb mich bereits um, seit das Mädchen tot aufgefunden wurde, weil ich wusste, dass es wieder einmal zu "Schwanz ab"-Schreien kommen würde. Dazu braucht man auch kein Prophet zu sein.
Der Gemahl und ich sprachen darüber, morgens im Bad, oder auf dem Weg zum Auto. Ich musste an Trayvon Martin denken, der auch jemandem verdächtig vorkam und deshalb erschossen wurde. Der Junge war 17, und er wollte sich nur von der Tankstelle etwas zu Knabbern und Trinken holen. Aber in Amerika gilt der Black Male Code – will heißen, jeder, der schwarz und männlich ist, läuft Gefahr, von irgendwem für verdächtig gehalten zu werden. Da greift der Ami gern schon mal zur Waffe.
"Kennst Du die Geschichte von Jesse Washington?", fragt mich der Gatte, und er erzählt sie mir. Später am Tag mache ich dann den Fehler und benutze die Google-Bildersuche, und schließlich ist mir beinahe schlecht, und tiefstes Entsetzen ergreift mich angesichts der puren, unverschleierten Boshaftigkeit, die der Mensch in sich trägt. "This is the Barbecue we had last night..."
Aber, ach, das hat ja alles nichts mit Emden zu tun. Das war Amerika, das Land, in dem sich jeder mit der Waffe "verteidigen" darf. Sowas passiert bei uns ja nicht...
Das Netz macht's möglich, dass ein jeder schreibt. Das ist ja auch gut so. Das Netz bietet schließlich auch mir die Möglichkeit, meine Gedanken an die große Glocke zu hängen. Ich bin der Auffassung, dass es nicht das Netz selbst ist, das irgendwelche Abscheulichkeiten in den Menschen zutage fördert. Aber seine Meinung an jede Ecke pinkeln zu können und dafür mehr oder weniger garantiert auch eine Leserschaft zu finden, macht manch einen hemmungslos, und so bricht auf wie ein Geschwür, was in den Menschen schwärt. Wann immer irgendwo ein Kind zu Tode gebracht oder ein Sexualverbrechen begangen wird, sind diejenigen nicht weit, die verbal die Keule schwingen. Das Netz bietet eine Plattform, alles das zu äußern, was im realen Leben möglicherweise noch durch das soziale Umfeld sanktioniert und abgeschwächt würde. Unverhüllt zeigt sich dann, dass der Mensch dem Menschen doch ein Wolf ist, und man wähnt sich im plötzlich doch beinahe im Texas des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts.
Schauen Sie sich die Postkarte vom Lynchmord an Jesse Washington genau an. Nicht den verbrannten, verstümmelten Leichnam des 17jährigen Jungen, der da hängt, sondern die Gesichter der Umstehenden. Die Standhaftigkeit in ihren Gesichtern, die festen Blicke, die zu sagen scheinen: "Schaut uns an. Wir haben für Ordnung gesorgt. Die Sache in die Hand genommen!" Das ist die felsenfeste Überzeugung von der eigenen Rechtschaffenheit, das ist Genugtuung, das ist beinahe schon Stolz.
Ganz genau diese Einstellung, die sich da in den Augen der Bewohner von Waco spiegelt, findet sich in jedem dieser Netz-Kommentare deutlich spürbar wieder, mehr als 110 Jahre später, in einer anderen Welt, einem anderen Land. Sie ist es, die mir Angst macht. Angesichts einer solchen Auffassung von Recht und Ordnung, von Gut und Böse, Schwarz und Weiß wird die Wirklichkeit nichtig. So spielen Schuld und Unschuld, Gesetz und Gericht, Strafe und Entschädigung nicht die geringste Rolle mehr. Es gibt angesichts dieser inneren Realität der Menschen kein Maß mehr als das eigene, keinen gesellschaftlichen Konsens, keine Regeln. Es gibt kein Gefühl mehr als den eigenen Hass, der sich auf den anderen entlädt, gleich, wer er ist.
Ich lasse mir gern nachsagen, in dieser Angelegenheit zu sensibel zu sein, und ich werde es bleiben. Die Bürger von Emden werden ihren zu Unrecht Verdächtigten nicht wieder zurückbekommen, und wenn sie noch so viele Plakate vor die Fernsehkameras halten, denn was sie eigentlich gern zurück hätten – ihre Unschuld – werden sie vergeblich suchen.
Wer nicht denkt, bevor er schreit, hat es nicht besser verdient.
"Es tut uns Leid!"
"Ihr seid herzlich willkommen!"
Kollektivem Hass folgt jetzt das kollektive schlechte Gewissen.
Mit knapp 52.000 Einwohnern ist Emden ein Kaff, in dem sich Leute kennen und wissen, wer wo wohnt, wie wer heißt, wie wessen Geschwister, Eltern und Freunde heißen, woher jemand kommt und wohin jemand geht. Damit unterscheidet sich Emden wahrscheinlich nicht von anderen Städten in Deutschland. Ehrlich gesagt glaube ich auch nicht, dass es sich sonst groß unterscheidet.
Ich glaube, in jeder Stadt gäbe es Leute, die zur Lynchjustiz aufriefen, wenn sich ihnen die Gelegenheit dazu böte. Ich mache mir keine Illusionen darüber, wie die Menschen ticken. Sobald jemand kommt, der die passenden Worte wählt und die Wut in den Leuten weckt, schürt und schließlich legitimiert, greift man sich die sprichwörtliche Heugabel und geht Häuser anzünden.
Ich habe viel darüber nachgedacht, ob ich schon wieder einen Beitrag über den Volkszorn verfassen will. Ich weiß, dass ich mich wiederhole, aber es bewegt mich immer wieder aufs Neue, was in den Menschen wohl vorgehen mag, dass sie derart den Verstand verlieren. Das Thema trieb mich bereits um, seit das Mädchen tot aufgefunden wurde, weil ich wusste, dass es wieder einmal zu "Schwanz ab"-Schreien kommen würde. Dazu braucht man auch kein Prophet zu sein.
Der Gemahl und ich sprachen darüber, morgens im Bad, oder auf dem Weg zum Auto. Ich musste an Trayvon Martin denken, der auch jemandem verdächtig vorkam und deshalb erschossen wurde. Der Junge war 17, und er wollte sich nur von der Tankstelle etwas zu Knabbern und Trinken holen. Aber in Amerika gilt der Black Male Code – will heißen, jeder, der schwarz und männlich ist, läuft Gefahr, von irgendwem für verdächtig gehalten zu werden. Da greift der Ami gern schon mal zur Waffe.
"Kennst Du die Geschichte von Jesse Washington?", fragt mich der Gatte, und er erzählt sie mir. Später am Tag mache ich dann den Fehler und benutze die Google-Bildersuche, und schließlich ist mir beinahe schlecht, und tiefstes Entsetzen ergreift mich angesichts der puren, unverschleierten Boshaftigkeit, die der Mensch in sich trägt. "This is the Barbecue we had last night..."
Aber, ach, das hat ja alles nichts mit Emden zu tun. Das war Amerika, das Land, in dem sich jeder mit der Waffe "verteidigen" darf. Sowas passiert bei uns ja nicht...
Das Netz macht's möglich, dass ein jeder schreibt. Das ist ja auch gut so. Das Netz bietet schließlich auch mir die Möglichkeit, meine Gedanken an die große Glocke zu hängen. Ich bin der Auffassung, dass es nicht das Netz selbst ist, das irgendwelche Abscheulichkeiten in den Menschen zutage fördert. Aber seine Meinung an jede Ecke pinkeln zu können und dafür mehr oder weniger garantiert auch eine Leserschaft zu finden, macht manch einen hemmungslos, und so bricht auf wie ein Geschwür, was in den Menschen schwärt. Wann immer irgendwo ein Kind zu Tode gebracht oder ein Sexualverbrechen begangen wird, sind diejenigen nicht weit, die verbal die Keule schwingen. Das Netz bietet eine Plattform, alles das zu äußern, was im realen Leben möglicherweise noch durch das soziale Umfeld sanktioniert und abgeschwächt würde. Unverhüllt zeigt sich dann, dass der Mensch dem Menschen doch ein Wolf ist, und man wähnt sich im plötzlich doch beinahe im Texas des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts.
Schauen Sie sich die Postkarte vom Lynchmord an Jesse Washington genau an. Nicht den verbrannten, verstümmelten Leichnam des 17jährigen Jungen, der da hängt, sondern die Gesichter der Umstehenden. Die Standhaftigkeit in ihren Gesichtern, die festen Blicke, die zu sagen scheinen: "Schaut uns an. Wir haben für Ordnung gesorgt. Die Sache in die Hand genommen!" Das ist die felsenfeste Überzeugung von der eigenen Rechtschaffenheit, das ist Genugtuung, das ist beinahe schon Stolz.
Ganz genau diese Einstellung, die sich da in den Augen der Bewohner von Waco spiegelt, findet sich in jedem dieser Netz-Kommentare deutlich spürbar wieder, mehr als 110 Jahre später, in einer anderen Welt, einem anderen Land. Sie ist es, die mir Angst macht. Angesichts einer solchen Auffassung von Recht und Ordnung, von Gut und Böse, Schwarz und Weiß wird die Wirklichkeit nichtig. So spielen Schuld und Unschuld, Gesetz und Gericht, Strafe und Entschädigung nicht die geringste Rolle mehr. Es gibt angesichts dieser inneren Realität der Menschen kein Maß mehr als das eigene, keinen gesellschaftlichen Konsens, keine Regeln. Es gibt kein Gefühl mehr als den eigenen Hass, der sich auf den anderen entlädt, gleich, wer er ist.
Ich lasse mir gern nachsagen, in dieser Angelegenheit zu sensibel zu sein, und ich werde es bleiben. Die Bürger von Emden werden ihren zu Unrecht Verdächtigten nicht wieder zurückbekommen, und wenn sie noch so viele Plakate vor die Fernsehkameras halten, denn was sie eigentlich gern zurück hätten – ihre Unschuld – werden sie vergeblich suchen.
Wer nicht denkt, bevor er schreit, hat es nicht besser verdient.