Sturmflut
Weserbergland (8):
Münchhausen, Bismarck und Atomkraft.
Als der Morgen kam, waren die Hosenbeine trocken. In den Schnürsenkeln meiner Wanderschuhe hingen noch Grassamen und in den Nähten hatte sich etwas Schlamm festgesetzt, aber auch sie waren wieder trocken. Wir hatten ausgezeichnet geschlafen und gefrühstückt, ehe wir uns wieder auf den Weg machten.

In der hübschen Fachwerk-Innenstadt von Bodenwerder wurden gerade Buden, Bühnen und Bänke für das Stadtfest aufgebaut, hier und da standen Leute zusammen und lachten, eine Gruppe junger Männer trug ein Ruderboot durch die Straße. Wir versorgten uns mit Bargeld, Heftpflastern und Getränken und brachen auf.



Gerade als wir an der Kirche vorbei in Richtung Weserbrücke gingen, hielt uns ein älterer Mann an.

"Na, wohin sind die jungen Damen denn unterwegs?" Wir erzählten. "Waren Sie denn auch schon im Münchhausen-Museum?" Waren wir noch nicht. "Das müssen Sie aber unbedingt noch machen!" sagte er mit einem gewissen Nachdruck und angelte in seiner Hosentasche nach seinem Portemonnaie. Er zog zwei Freikarten hervor und drückte sie uns in die Hand. Ehrenamtlich sei er da tätig, und alle Mitarbeiter des Museums seien enorm engagiert - uns entginge wirklich etwas, wenn wir das versäumten. Eigentlich war uns beiden nach Aufbruch, weil es bereits nicht mehr allzu früh war und zusehends wärmer wurde. Aber dieses Angebot abzulehnen, wäre schlicht unfreundlich gewesen.

Also bedankten wir uns für die Karten und machten uns zum Museum auf. Auf dem Vorplatz war eine Art mittelalterlicher Markt errichtet, auf dem schon ein ziemlicher Publikumsverkehr herrschte. Im Museum war es kühl und ruhig. Wir parkten unser Gepäck in einem Winkel bei der Kasse und sahen uns um. Im unteren Stock gab es etwas Bodenwerdersche Ortsgeschichte. Schließlich tauchte eine größere Gruppe Leute auf, und die Dame hinter der Kasse ermunterte uns, uns der Führung und dem Vortrag ihres Kollegen anzuschließen. Auf diese Weise kamen wir in den Genuss eines gleichermaßen humor- wie liebevollen Blicks auf den wirklichen Baron von Münchhausen, der offenbar alles andere als ein Lügenerzähler, dennoch aber mit einem gewissen rhetorischen Talent gesegnet gewesen war. Und auch, wenn das dazu führte, dass wir rund anderthalb Stunden später die Stadt verließen als geplant, waren wir uns letztlich doch einig, dass es amüsant und kurzweilig gewesen war.



Wir verließen Bodenwerder über die Brücke ans östliche Weserufer und bogen dann auf einen Fußweg ab. Auf den Wiesen hier campierten Amateurfunker und Reservekameradschaften, und als wir anstiegen, um die Autobrücke zu unterqueren, die sich an dieser Stelle über die Weser spannt, kamen uns fröhlich johlende Männergrüppchen entgegen, die sich auf mehrsitzigen Mannschaftsfahrrädern mit Alkoholantrieb den Hang hinunterrollen ließen. Die Stimmung war offenbar gut.

Wir sahen zur rechten Seite hinauf, und nach einem Blick auf den Wegweiser sagte ich zu S.: "Hm, aber bis zu diesem Bismarckturm rauf werden die uns ja wohl nicht führen?" Der Wanderweg, dem wir laut Karte zu folgen hatten, war immerhin ausgeschildert, aber hatte es auf der Karte noch so ausgesehen, als schlängele er sich am Fuß des Hügels entlang, sagten die Hinweise vor Ort etwas anderes. Wir beschlossen, erst einmal den Schildern zu folgen.

Bergauf. Meinem Gepäck und meiner bereits erwähnten, an Anstiegen etwas zweifelhaften Kondition war es geschuldet, dass S. mir auf dem sich in Serpentinen windenden Weg immer ein gutes Stück voraus war. Oder auch ihrer Höhenangst, denn wie sie mir schließlich am Fuß des besagten Bismarckturms gestand, machte sie allein schon der Blick hinunter so dermaßen schwindlig, dass sie das so schnell wie möglich hatte hinter sich bringen wollen. Oben knabberten wir erst einmal einen Riegel. Ich kletterte noch auf den Turm, während S. wohlweislich unten sitzen blieb, und wieder mal war die Aussicht atemberaubend. Bodenwerder lag unten in der Weserschleife wie ein Modellstädtchen. Auf der Weser krochen Boote in Richtung der Anleger bei der Stadt, und im Süden war der Höhenzug zu sehen, über den wir tags zuvor gekommen waren.



Irgendwann hörten wir schließlich ein sich näherndes Auto, was uns hier oben reichlich befremdlich vorkam, und wir machten uns auf die Socken, auf der anderen Seite des Rückens wieder abzusteigen. Ein kurzes Stück lang war der Weg unangenehm geteerte Forststraße, bog dann aber schließlich ab und wurde zu einem breiten Weg am Waldrand und dann zu einem schmalen Fußweg. Wieder waren wir stellenweise unsicher, ob wir richtig waren, entdeckten dann aber doch immer wieder in regelmäßigen Abständen Wegbezeichnungen für den Weserberglandweg, die man mangels erkennbarer Wege zum Teil nicht einmal dort mitten im Wald vermutet hätte. Was folgte, war eine interessante Odyssee. Offenbar hatten die Wegeplaner sich gedacht, es sei für Wanderer besonders spannend, in exotischen Schleifen durch unwegsames Gelände zu marschieren. Zwar hatte uns der Mensch vom Fremdenverkehrsamt durchaus vorgewarnt, der Weg sei noch nicht ausgereift, aber mit sowas hatten wir dann doch eher nicht gerechnet. Die Wegführung unterschied sich als solche teilweise nur darin vom Dickicht, dass ein breiter Streifen mit einer Mähmaschine hineingefräst war. Kaninchenlöcher, Gräben, abgeschnittene Baumwurzeln und liegengelassenes Geäst machten das Fortkommen bisweilen sehr mühsam. Dementsprechend lief uns auch der Schweiß über den Rücken. Später überquerten wir eine Landstraße, dann führte der Weg quer über eine Hangwiese, die wohl zuvor als Kuhweide gedient hatte. Auch hier wieder Zweifel: Sind wir richtig? Aber wir waren richtig. Am Ende der Wiese verriet ein tunnelförmiges Loch im Bewuchs, dass es weiterging, und dann folgte wieder Beschilderung. Wir waren schon beinahe erleichtert, als wir auf einem Forstweg herauskamen.

Bereits im Vorfeld hatten wir beschlossen, der so unfertigen und unlogischen Wegführung des offiziellen Weserberglandweges nicht weiter zu folgen. Anstatt bei Daspe die Weser wieder zu überqueren, blieben wir auf der Ostseite und wollten einem anderen in der Karte verzeichneten Wanderweg bis nach Latferde folgen, wo unsere nächste Unterkunft lag. Also hielten wir uns erst einmal an der Nordostseite des Höhenzugs, von wo sich hübsche Ausblicke auf die Landschaft ergaben.



Sekunden, nachdem ich zu S. gesagt hatte, man könne doch jetzt vielleicht auch wieder einmal eine Bank gebrauchen, tauchte hinter der nächsten Wegbiegung eine solche auf. Genüsslich streckten wir die Beine von uns, knabberten Kakaokekse und Schüttelbrot, tranken etwas und ruhten aus. Am Horizont drehten sich die Windräder, während der Himmel langsam aber sicher wieder zuzog.



Wir folgten ein gutes Stück weit einem Feldweg, der uns schließlich an einer Landstraße wieder ausspuckte. Die Hügel wichen zurück und gaben den Blick frei auf Felder, Felder, Felder. Sie lagen beinahe ein wenig öde unter dem bleiern wirkenden Himmel. Rechterhand hätte jetzt eigentlich der Wanderweg abbiegen müssen, aber es war nirgends ersichtlich, ob und wo hier Wege begannen oder endeten. Wir trafen auf einen Radfahrer, der in Shorts und mit offenstehendem Hemd den Berg hinauf radelte, und fragte ihn nach dem Weg in Richtung Latferde. Der riet uns zu "geradeaus und dann bei der Bank rechts", was sich allenfalls als Anhaltspunkt herausstellen sollte. Wir folgten also dem Weg zwischen den Feldern hindurch. Nach geraumer Zeit trafen wir tatsächlich auf die besagte Bank und konnten auf der Karte verorten, wo wir uns befanden, beschlossen aber, zwischen den Feldern weiterzugehen, anstatt wieder den Hügel hinaufzusteigen. Die zunehmend dunkler werdende Wolkendecke machte uns nach unseren Erfahrungen vom Vortag leichte Sorgen.

Als Landmarke schoben sich bald die beiden Kühltürme des Kernkraftwerks Grohnde ins Blickfeld, die direkt gegenüber Latferde auf dem jenseitigen Weserufer standen und dicke weiße Wasserdampfschwaden ausstießen. Sie gaben uns einen Anhaltspunkt, und wir liefen der Nase nach.



Trotz des düsterer werdenden Himmels stand auf einer Hangwiese ein Grüppchen und ließ Modellflugzeuge fliegen, uns kamen Spaziergänger mit Hunden und ein jugendlicher Motorradfahrer entgegen. Auf den weitgehend ebenen Wegen ging es sich fast wie von selbst, und S. und ich vertieften uns in Gespräche über Gott und die Welt. Dann erreichten wir den winzigen Ort Frenke, eine hübsche Ansiedlung aus Fachwerk- und Backsteinhäusern.



Latferde war nicht mehr weit entfernt, und wir hörten trotz der dunklen Bewölkung kein Donnergrollen, so dass sich die Eile in Grenzen hielt.



Wir verließen Frenke am Straßenrand entlang in Richtung Grohnder Fähre. Die dort zwischen den Bäumen liegenden Fachwerkhäuser und Türmchen boten einen eigenartigen Kontrast zu den massigen Kühltürmen direkt daneben.





Wir ließen sie links liegen und folgten der schnurgeraden Straße, was ein unerfreuliches Unterfangen war. Die Autos, die mit beträchtlichem Tempo an uns vorbeirauschten, gaben uns einmal mehr das Gefühl, eigentlich nicht hier sein zu wollen und zu sollen. Als wir die ersten Häuser von Latferde erreichten, waren wir sehr erleichtert.

In Latferde empfing uns ein angenehmes Zweibettzimmer. Wir deponierten das Gepäck, tauschten die Wanderschuhe gegen Flipflops und machten uns auf den Weg zu dem einzigen Restaurant im Ort, das das übliche Ambiente mit Tresen im Schankraum, Eiche rustikal und künstlichen Blumen auf den Tischen bot. Die Speisekarte bestand weitgehend aus dem schon sattsam bekannten Angebot verschiedener Schnitzelvarianten und anderem Gutbürgerlichem. Das kalte Bier trug denn allerdings zu meiner Versöhnung bei.

Nach dem Abendessen war es draußen so angenehm und lau, dass ich mich schwer damit tat, schon wieder ins Zimmer zurückzukehren. S. ließ sich trotz Fußschmerz überreden, doch noch zum Weserufer hinabzugehen, von wo aus man eine hinreißende Aussicht auf das direkt gegenüberliegende Kernkraftwerksgelände hat. Trotz allem war es irgendwie idyllisch, denn an dieser Stelle befinden sich, abgesehen vom Kraftwerk, auch die Latferder Klippen. Das sieht nicht annähernd so spektakulär aus, wie es sich anhört, ist aber dennoch ein schönes Fleckchen. Hier verengt sich die Weser und wird recht strömungsstark, und die Ufer bestehen aus terrassigen Steinschichten. Wir standen eine ganze Weile am Ufer, hörten dem Murmeln und Gurgeln zu, ließen flache Steine auf dem Wasser springen und ich sammelte Treibholz, dass ich mit nach hause nehmen wollte.

Zurück auf dem Zimmer sperrten wir das Fenster auf und ließen die laue Luft herein, machten uns auf den Betten lang und redeten. Am nächsten Tag sollte uns die letzte Etappe bis nach Hameln bevorstehen, und schließlich würden wir wieder getrennter Wege gehen. Leichte Wehmut lag in der Luft. Aber erst einmal...