Sturmflut
Weserbergland (9): Letzte Schritte
Im Frühstücksraum unserer Pension starrten S. und ich leicht betrübt auf das weiße Tischtuch. Uns wurde an diesem Morgen deutlich, dass sich unsere Tour dem Ende näherte. Alle bisherigen Tage hatten wir mit der Ankunft an einem Ort beendet, von dem wir am nächsten Tag wieder aufgebrochen waren. Hinter jeder bisherigen Kurve wartete Neues auf uns. Heute also würde das zum letzten Mal der Fall sein, und dann würden wir in getrennte Züge steigen, und der nächste Tag würde dann keine neuen Wege bringen.

"Ach, aber gleich gehen wir erst mal wieder!" Mit diesem Satz beendeten wir das Grübeln, räumten und bezahlten unser Zimmer und fragten an der Rezeption nach den Zugverbindungen von Emmerthal. Der Plan war, dort den Zug in Richtung Hannover zu nehmen, von wo wir dann in unterschiedliche Richtungen weiterfahren würden.

Wir verließen das Örtchen Latferde und gingen auf demselben Weg wie am Abend zuvor hinunter zur Weser.



Dort verlief der Weserradweg, dem wir bis Emmerthal folgen wollten. Die beiden Kühltürme des Kraftwerks hoben sich gegen den blauen Morgenhimmel ab und stießen dünne Wolken in die Luft. Wir kehrten ihnen den Rücken. Die Sonne kam heraus, und unsere Laune besserte sich mit dem gemeinsamen Laufen wieder. Wir hatten ja noch etwas Zeit.



Landschaftlich wäre es sicher auf der anderen Weserseite schöner gewesen, aber diesen Haken wollten wir nicht schlagen. Wegen der unausgereiften Wegführung hatten wir es hier völlig aufgegeben, dem Weserberglandweg zu folgen. Der Zeitbedarf war einfach zu schlecht kalkulierbar. Der Weserradweg verfügte immerhin über Wegweiser, anhand derer wir den Überblick über die Entfernungen behalten konnten.

Nach einer Weile tauchten bereits die Dächer von Emmerthal auf. Wir setzten uns auf eine Bank am Wegrand und ließen ein Ausflugsschiff an uns vorbeiziehen, tranken einen Schluck, kramten in den Taschen nach Traubenzucker und schauten ans gegenüberliegende Ufer, wo sich eine Schafherde am Fluss drängte.



Der Radverkehr an der Weser nahm allmählich zu, aber wir waren die einzigen, die den Weg zu Fuß machten - bis um die Wegbiegung herum jemand etwa in unserem Alter auftauchte, mit Hut auf dem Kopf und einem ziemlich großen Trekkingrucksack auf dem Rücken. "Der pilgert bestimmt!" sagte ich zu S.

Wir kamen ins Gespräch. Ja, er sei auf dem Pilgerweg Loccum-Volkenroda unterwegs, und er wolle von Emmerthal mit dem Zug fahren. Also gingen wir ein Stück zusammen, plauderten über die Klöster, die wir gesehen hatten und über die Route und standen schließlich schneller an der Weserbrücke nach Emmerthal, als wir gedacht hatten.

Wir verabschiedeten uns, denn wir hatten viel mehr Zeit übrig, als wir eigentlich angenommen hatten und entschieden uns schließlich, noch bis nach Hameln weiterzugehen und erst dort den Zug zu besteigen. Unser Pilger winkte noch einmal zurück, und wir gingen unter der Brücke hindurch weiter. Die Entscheidung, weiterhin zu Fuß zu gehen, war allerdings nicht nur aus der Zeitplanung heraus geboren. Wir hatten einen Punkt erreicht, an dem wir einfach nur weiter und weiter gehen konnten. Kein Gedanke mehr an Mitnahme per Auto, Linienbus oder gar Taxi.



Wir hatten uns einfach an das Laufen gewöhnt. Das bedeutete nicht, dass es etwa weniger weh tat oder weniger anstrengend war, schon gar nicht auf dem teils gepflasterten, teils asphaltierten Weserradweg. Es bedeutete, dass wir diese Art der Fortbewegung als uns eigen und passend empfanden.



Der Weg an sich forderte uns nicht viel ab und wurde bisweilen fast ein wenig öde. Wir redeten wieder die meiste Zeit. Einige Kilometer vor Hameln stießen wir auf ein Lokal mit Terrasse und Blick auf den Fluss und entschieden uns spontan für eine Mahlzeit. Es gab Pfannkuchen mit Äpfeln, die wir sehr genossen. Auf der Terrasse fröstelte ich allerdings doch ein bisschen. Der Himmel zog langsam zu, und ohne Sonne und Bewegung wurde es schnell ziemlich frisch.

Schließlich erreichten wir den Stadtrand von Hameln.



Wir liefen durch eine Kleingartenkolonie, überquerten auf einer bogenförmigen Brücke die Bahngleise eines Industriegebiets und folgten dann dem befestigten Ufer der Weser vorbei an der stillgelegten Eisenbahnbrücke in das Zentrum der Stadt.



Nun ist Hameln weit davon entfernt, eine Großstadt zu sein, und dennoch erschlug mich sein städtischer Charakter regelrecht - der Autoverkehr, die Menschen auf den Straßen. Der letzte größere Ort, in dem wir gewesen waren - Bodenwerder - hatte nur ein Zehntel so viele Einwohner gehabt und sich erheblich beschaulicher gegeben. Hier aber waren jetzt die Geräusche und Gerüche auf einmal viel präsenter, als man sie im Alltag erfährt. Genau so war es mir auch schon mal nach einer mehrtägigen Radtour mit dem Gatten ergangen. Es stellt sich wohl einfach eine gewisse Zivilisationsscheu ein.

Hameln selbst sei aber an dieser Stelle kein Unrecht angetan.



Die Stadt beeindruckte uns mit wunderhübschen Häuserfassaden der Weserrenaissance und mit Fachwerkbauten, über deren Details man eine eigene, größere Fotoserie hätte machen können.





Wir schlenderten durch die Gassen, machten Bilder und sahen uns die Schaufenster der kleinen Lädchen an.



Die Marktkirche St. Nicolai war offen und wir gingen hinein. Sie wirkte auf mich aber mit ihrem Interieur aus den Fünfzigern eher düster und kühl, und wir hielten uns nicht sonderlich lang auf. Bis unser Zug fahren würde, hatten wir allerdings noch etwas Zeit. Wir setzten uns also in ein Eiscafé und belohnten uns zum Abschluss unserer Wandertour mit Süß-Kaltem.



Stumm waren wir und ein bisschen müde. Vielleicht ist das so am Ende einer Reise. Man beginnt ein inneres Bilanzieren und zugleich wünscht man, das Unterwegs-Sein würde nicht enden. Es fehlt plötzlich die Vorfreude vergangener Tage, aber süße Erinnerung hat sich noch nicht eingestellt.



Auf dem Bahnsteig im Hamelner Bahnhof saßen wir also ziemlich maulfaul nebeneinander auf einer Wartebank, während der Himmel zunehmend dunkler wurde, ein kräftiger Wind die Baumkronen durchkämmte und einige Regentropfen auf den Beton klatschten.



Der Zug kam und nahm uns mit, und wieder erschien es uns fast frevelhaft, so schnell und mühelos unterwegs zu sein. Die Landschaft rauschte an uns vorbei. Beide schauten wir im Vorbeifahren auf Rastplätze und Wegbiegungen. Es war sehr eigenartig, dass sie auf einmal nicht mehr dasselbe bedeuteten.

In Hannover fuhren unser beider Züge vom selben Gleis, mit etwa einer halben Stunde Zeitunterschied. Ich war diejenige, die später fuhr. Wir nahmen uns sehr fest in die Arme und wünschten uns gegenseitig eine gute Fahrt, "...und pass' auf dich auf!", und hatten Tränen in den Augenwinkeln. S. bestieg inmitten der Menschenströme den Wagon. Ich machte sie mit etwas Mühe hinter der verspiegelten Scheibe aus, lief neben ihrem schneller werdenden Zug her und winkte. Dann war ich allein.

Als ich dann in meinem Abteil saß, steckte ich mir Kopfhörer in die Ohren, legte meine Lieblingscassette ein und genoss das Davongetragenwerden, das auf melancholische Art zum Abschied passte. Ich fuhr heim, durch mehrere kräftige Gewitterschauer hindurch, und lange Tropfen liefen an der Außenseite der Scheibe hinunter. Im Sitz neben mir saß ein kleiner Junge, der ganz allein zu reisen schien und dabei sehr routiniert war. Mein Zug querte bei Porta Westfalica noch einmal die Weser, was ich zum Anlass nahm, S. einen lieben Gruß per SMS zu senden und ihr zu sagen, wie gut es mir mit ihr gefallen hatte.

Abends umarmte ich zuhause meinen Liebsten, und wir erzählten einander von unseren Reisen.

Ich habe in den darauf folgenden Tagen und Wochen den offenen Himmel so sehr vermisst.