Sturmflut
Kleine Fehler
Überhand nehmende Beikräuter machten es erforderlich, dass ich mich gestern nachmittag endlich mal, bewehrt mit einem stählernen Haken, einer Styropormatte, Gartenhandschuhen und angetan mit meiner alten Arbeitsjeans in unsere Auffahrt begab, um mich dem Problem zu widmen. Unkraut auszuziehen ist, gemessen an dem, was ich in den letzten Tagen tat, eine bemerkenswert unkonstruktive, langweilige und obendrein noch überaus spießige Tätigkeit. Aber weil ich nicht wollte, dass das Grün noch weiter wuchert, war Handeln angebracht. Erstaunlich ohnehin, dass es so schnell wächst - ich hatte doch erst vor ein paar Wochen...

In meinem Städtchen ist es von ausgesprochen großer Bedeutung, wie oft das jemand macht, Unkraut zupfen. Man mag hier gepflegte, geordnete Verhältnisse und mutmaßt schnell, welcher Art der Charakterfehler sein mag, den jemand hat, wenn er Besitz oder Gemietetes eklatant vernachlässigt. Da stimmt dann irgendwas nicht. Gerüchte machen die Runde, jemand käme nicht zurecht, es würde zu viel, man sei faul oder was auch immer sich für Schlüsse aus dem ungejäteten Streifen Garten ablesen lassen, der von der Straße aus für Fremde einsehbar ist. Mitunter folgt auch der Schluss, der Ordnungsverweigerer sei nicht von hier, möglicherweise aus einem eher südlichen Land, denn die haben ja andere Maßstäbe.

Wenn ich etwas tue, denke ich gern an die Webfehler, die orientalische Teppichweber der Legende nach in ihre Teppiche einweben, weil es allein Allah erlaubt und möglich sei, etwas perfekt zu machen. Auch ganz ohne religiös zu sein, fasziniert mich dieser Gedanke: Es nicht nur nicht perfekt machen zu müssen, sondern das Streben nach Perfektion als sogar als Anmaßung zu betrachten. Auf den Knien in der Einfahrt hockend, schoss mir dieses Konzept wieder durch den Kopf und vermischte sich dort mit einer Erinnerung an die Forderung nach Perfektion, die meine Kindheit und Jugend bestimmt hatte. Man hört nicht eher auf mit der Arbeit, ehe alles getan und ehe es auch gut getan ist. Auf eine Weise, die der Prüfung durch die Augen anderer - Verwandschaft, Nachbarschaft, Fremder - standhält. Ordentlich, gründlich, sauber und bis zum Ende, so wird es gemacht!

In dem, was ich gestern tat, habe ich mit Absicht Webfehler hinterlassen. Das ist die Weigerung, perfekt zu sein, dieser winzige, wirklich verschwindend kleine Krümel Aufbegehrens gegen die Maxime der Perfektion. Er ist mit einem ähnlich guten Gefühl verbunden wie der Satz "Der frühe Vogel kann mich mal", den ich mir ins Gedächtnis rufe, wenn ich mir mal Ruhe gönnen und diese auch genießen will.

Diese vermeintlichen Tugenden über Bord zu werfen - übertriebene Ordnung, Gründlichkeit, hohe Ansprüche, Fleiß - das tut einfach nur gut. Zwischen den roten Klinkern der Auffahrt sitzen noch immer hier und da ein Büschel wilden Grases, etwas Moos, einige quergesprossene Stengel. Das bleibt so.

Perfektion ist nicht nötig. Die eigene Zufriedenheit mit dem Ergebnis der Anstrengungen ist das einzige, was wirklich zählt. Was die Nachbarn davon halten? Ob sie mich fleißig oder faul finden? Ob sie der Ansicht sind, ich habe es gut oder schlecht gemacht? Was spielt das für eine Rolle? Neben der strammstehenden Vorgartenwirklichkeit dieses Ortes gibt es noch eine andere, die allein ausschlaggebend ist. Fühle ich mich in dem, was mich umgibt, wohl oder nicht? Kann ich damit leben?

Kleine Reste Moos sind nichts, was weiter auffällt, sie sind nur kleine Fehler, die mich daran erinnern, dass ich mir so etwas erlauben will. Nichts für die ganz große Revolution. Und trotzdem wichtig für mein persönliches Behagen, weil endlich ganz mein. Ob ich unperfekt sein darf oder nicht, hängt letztlich nur davon ab, ob ich es mir erlaube oder nicht. Und weil Perfektion in Sachen Unkraut ohnehin ein riesengroßer, banaler Quatsch ist, kann ich drauf verzichten. Mit Vergnügen.